Wieder versagt das beste Verkehrsmittel in der Stunde seiner größten Chance. Als ob die Kälte kälter und die Weichen weicher als früher wären.

Berlin. Wann, wenn nicht jetzt, in diesen letzten, heiligen Tagen des Jahres? Es könnten Tage der Bewährung sein, die Chance, aus der Deutschen Bahn die Bahn der Herzen zu machen. Doch die Chance wird verstreichen, und die Herzen bleiben kalt, in den Betongrüften des Hauptbahnhofs Berlin, im Windkanal von Kassel-Wilhelmshöhe oder den Katakomben von Köln. Die Deutschen werden sie nicht lieben, ihre Bahn, wenn das Weihnachtsfest verklungen und das Jahr verstrichen ist.

Deutschland im Dezember 2010: Völlig überraschend fällt aus dem eisigen Himmel eine weiße, tückische und im Zeitalter des Klimawandels weit unterschätzte Substanz: Schnee. Der Winter friert das Musterland der Weltwirtschaft, die leistungsfähigste Mobilitätsmaschinerie Europas, in wenigen Tagen ein. Damit konnte niemand rechnen. Der letzte Winter liegt nun schon fast neun Monate zurück.

Jetzt schlägt die Stunde der Bahn, jetzt könnte das größte staatliche Unternehmen dieses großartigen Landes zeigen, dass es auch unterkühlt immer in Bewegung bleibt. Zu Tausenden irren in den Flughäfen Menschen ohne Anschluss umher. Allein in Frankfurt wurden gestern 340 von 1360 geplanten Flügen gestrichen. Zu Hunderttausenden müssen deutsche Autopendler einsehen, dass selbst das Heimatland des Automobils und der Autobahn dem Winter nicht gewachsen ist. Es ist die Stunde der Bahn - Zeit, all die Kritikaster und Miesmacher, all die Laien und Modelleisenbahner zum Schweigen zu bringen mit einem einzigen ganz großen Zug: mit einem Zug, der fährt.

Doch was tut das statistisch pünktlichste und zuverlässigste Verkehrsmittel im Land? Es bittet um Verständnis. "Kunden, die ihre Fahrt nicht unbedingt am Sonntagnachmittag antreten müssen, empfiehlt die DB, auf weniger nachgefragte Zeiten auszuweichen", teilte die Bahn am Sonntag mit. Das Chaos im europäischen Flugverkehr und auf den Straßen habe zu "erheblichen Kapazitätsengpässen auf wichtigen Fernverkehrsstrecken" des Unternehmens geführt. Die letzte Hoffnung vieler verzweifelter Reisender platzte. Die Bahn war voll.

Es ist noch kein Jahr her, dass die Deutsche Bahn in Eis und Schnee stecken blieb, mit eingefrorenen Weichen und bockigen Triebköpfen von ICE-Schnellzügen, mit toten Heizungen und klemmenden Türen. In vielen Reden hat Bahnchef Rüdiger Grube seither Qualitätsoffensiven und gnadenlose Kundentreue gelobt - schließlich wird der langjährige Monopolist, der einst eine bundeseigene Behörde war, seit den 90er-Jahren geführt wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen, wenngleich der Bund Alleineigner blieb. Doch nun droht die Offensive erneut in den Wehen des Winters zu scheitern. Der frühere russische Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin, der kürzlich starb, sagte zu Beginn der 90er-Jahre: "Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer." Tschernomyrdin meinte den Umbau der gescheiterten Sowjetunion in ein neues Russland. Er hätte es auch über die Deutsche Bahn sagen können.

Rätselhaft bleibt aus heutiger Sicht ein berühmtes Bahn-Werbeplakat aus den frühen 80er-Jahren. Da rauscht ein Intercity-Zug durch eine tief verschneite Landschaft. "Alle reden vom Wetter. Wir nicht." Was ist seither geschehen? Wurde der Schnee in Deutschland kälter, wurden die Weichen weicher? Wo ist die gute alte "Pünktlich-wie-die-Eisenbahn"?

"Die Bahn verpasst eine Riesenchance", sagt Uwe Beckmeyer aus Bremen, Bundestagsabgeordneter der SPD und Bahnexperte seiner Partei. "Die Deutsche Bahn ist nicht winterfest." Beckmeyer weiß, wovon er spricht, er reist Abertausende Kilometer im Jahr auf der Schiene. Aus voller Überzeugung und mit viel Verspätung. Sein jüngster Tribut an die Bahn betrug in der vergangenen Woche 90 Minuten, abgeleistet auf der Fahrt von Berlin über Hannover nach Bremen. "Das Problem ist", berichtet Beckmeyer von seinen Erfahrungen bei Verspätungen und Totalausfällen, "Sie bekommen keine Antworten auf Ihre Fragen."

Die Behörde Deutsche Bundesbahn strotzte vor beamteter Arroganz. Die Zeiten des herrschaftlichen Schaffners sind vorüber. Dafür gibt es heute den schlank organisierten Dienstleister. Die Rationalisierung der vergangenen Jahre ist für Beckmeyer die Wurzel vielen Übels. "Der Börsengang der Deutschen Bahn ist zwar einstweilen verschoben, aber die Sparmaßnahmen, mit denen er vorbereitet wurde, spüren die Bahnkunden heute in aller Breite." In den kommenden Jahren wird es nicht besser, meint der Verkehrspolitiker: "Die Bundesregierung will von 2011 bis 2014 jährlich 500 Millionen Euro Gewinnabführung von der Bahn. Das ist völlig kontraproduktiv. Das Unternehmen braucht jeden Euro an Investitionen."

Die Bahn soll alles können wie die eierlegende Wollmilchsau. Sie ist für das Land so wichtig wie Schulen, Polizei und Krankenhäuser, sie ist das Verkehrsmittel für jedermann. Doch sie soll auch Gewinne bringen für die Kassen des Bundes. Und das Bahn-Management in Berlin soll die Hoffnung nähren, dass es doch irgendwann einmal aufs Börsenparkett geht mit der Bahnaktie. Dabei ist der Sinn einer solchen Aktion heute so fragwürdig wie in den Jahren zuvor. Allein die Eisenbahnsparte der DB habe einen Wert von 100 bis 150 Milliarden Euro, schreiben die Journalisten Christian Esser und Astrid Randerath in ihrem "Schwarzbuch Deutsche Bahn", das in diesem Jahr erschienen ist: "Wäre es der DB AG, wie ursprünglich geplant, im Herbst 2008 gelungen, 24,9 Prozent ihrer Eisenbahnsparte an Investoren zu verhökern, dann hätte sie optimistischen Schätzungen zufolge zwischen vier und acht Milliarden Euro von privaten Investoren eingestrichen. Eine lächerliche Summe, ein Schnäppchen für Spekulanten", schreiben sie.

Die Bahn ist Pionier und Prügelknabe zugleich. Noch nie war es so komfortabel, Deutschland zu durchqueren, wie auf den ICE-Strecken des Unternehmens - wenn die Züge denn fahren. Gerade beim Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes aber leistete sich die Bahn etliche Schwächen, etwa defekte Radreifen und mangelhafte Achsen, die tiefe Zweifel an den Fähigkeiten des Konzerns schürten. Die Bahn steht unter Dauerfeuer, und der Chef schießt zurück. "Wir befördern an einem Tag so viele Passagiere wie die Lufthansa in einem Jahr, und in einem Jahr so viele Menschen, wie China und Indien gemeinsam an Einwohnern zählen", rechnet Rüdiger Grube vor. Doch China, Indien und die Lufthansa auf den Schienen der Bahn zählen nichts für den Reisenden, der auf dem nackten Bahnsteig von Bad Kleinen dem Anschlusszug vergebens entgegenfriert. Der im Sackbahnhof von Frankfurt oder München inmitten einer Horde Fußballfans die Anzeige mit den Verspätungen hasst.

Karl-Peter Naumann fällt eine Begebenheit aus dem vergangenen Winter ein, wenn er diesen Winter heranfrieren sieht. Da war der Vorsitzende des Fahrgastverbandes Pro Bahn auf der Schwäbischen Alb und wollte mit einem historischen Zug fahren. Doch die Dampfleitung der Dampflok musste erst vom Eis befreit werden - mit einer Gasfackel. "Das können sie natürlich bei einem ICE nicht machen, wenn eine wichtige Komponente eingefroren ist", sagt Naumann.

Auch er kritisiert, dass die Folgen des versuchten Börsengangs die Bahn weit zurückgeworfen hätten. Es werde an Material und an Personal gespart, es werde rationalisiert und zentralisiert. "Die Schweizer Bahn SBB wird oft als Vorbild für die Deutsche Bahn genannt", sagt Naumann. "Das ist im Kern nicht fair, denn das Schweizer Bahnnetz ist, verglichen mit dem deutschen, nicht viel mehr als eine S-Bahn. Aber der Vergleich lohnt trotzdem: Der gleiche Triebwagen, der in der Schweiz mit doppelten Sicherheitssystemen fährt, rollt in Deutschland aus Kostengründen nur mit einfacher Ausstattung."

Es sind dann die Kleinigkeiten, die große Folgen haben. Vergangenen Donnerstag blieb ein Regionalexpress zwischen Hamburg und Lübeck liegen. Mehr als zwei Stunden saßen 600 Reisende fest. Eine Lokomotive stand in Hamburg bereit und sollte den Zug übernehmen. Sie kam aber nicht hin, weil eine Weiche gefroren war. Die Bahn habe 67 000 Weichen, sagt ein Hamburger Bahnsprecher: "Zwei Drittel davon haben eine elektrische Heizung. Diese Heizungen haben 50 Kilowatt Leistung, das Doppelte eines Einfamilienhauses." Das aber bringt weder die Bahn noch ihre Passagiere weiter, wenn die Wartungsintervalle für die Technik, wenn die personellen Reserven immer weiter ausgedünnt werden.

Die Bahn gilt als das große Verkehrsmittel der Zukunft, konkurrenzfähig gegen Automobile auf verstopften Straßen und ökologisch bedenkliche Flieger auf Kurzstrecken. Die Bahn ist komfortabel, angenehm und sehr oft pünktlich. Tragisch für den Konzern, dass diese Vorzüge in diesen sensiblen Tagen nicht voll zum Tragen kommen. Flüge fallen reihenweise aus, auf den Straßen stauen sich die Autos auf Dutzenden Kilometern. Das deutsche Winterland ist kein Märchenland für Reisende. Am Schluss aber werden die meisten doch wieder nur auf die Bahn schimpfen. Egal wie viele Überstunden die Mitarbeiter auf der Schiene, in den Bahnhöfen und Reparaturwerkstätten in den nächsten Tagen machen mögen.

Denn vielleicht ist es doch Liebe zwischen den Deutschen und ihrer Bahn, wenn auch nur eine heimliche. "Mit dem Zug fahren wir zu unserer Großmutter, zu unserer Frau, zu unserer Geliebten, zu unseren Kindern", schreibt "Bild"-Kolumnist Franz Josef Wagner. "Wenn der Zug nicht mehr fährt, dann sind wir allein."