Ein Altenheim in Haifa nimmt mit deutscher Unterstützung Opfer des Nazi-Regimes auf, die an der Armutsgrenze leben. Und nur die.

Der Morgen lässt die Farben wieder leuchten. Sonne steht über den blumigen Hügeln von Haifa, einer Stadt im Norden Israels. Chava Herschkowitz und Miriam Kremin sitzen auf der Terrasse. Alle nennen sich hier beim Vornamen. Chava ist 77 Jahre alt, unterhalb ihrer grauen Haaren schimmern blaue Augen, wach und doch verschlossen. Miriam ist 87 Jahre alt, trägt Perlenkette und ein purpurnes Stofftuch. Sie haben Steine auf die Terrasse gelegt, Töpfe mit Blumen und Kakteen, darüber thront eine "6" aus Metall. Sie steht für sechs Millionen Juden, die hier mehr als 70 Jahre später symbolisch ein Grab haben sollen.

"Es ist ein schönes Haus, wir sollen hier zusammensein", sagt Chava. Sie haben fast ihr ganzes Leben darüber geschwiegen, was sie als Kinder erlebt haben. Nun werden die Tage einsamer, die Nächte kürzer, der Schlaf unruhiger.

Im Alter will die Vergangenheit heraus.

Chava hat geschrien in dieser Nacht. Sie hat geträumt, wie der Hund losrennt, seine Augen zu Schlitzen werden, die Zähne fletscht. Aufgeschreckt sind auch die anderen, nicht nur einmal. Miriam hat wieder das Schwein gesehen. Wie Heinz, der Koch, das Tier an den Beinen aufhängt, den Kopf mit einem Beil abschlägt und ruft:

"So werden wir auch die Juden schlachten, in einem Meer von Blut."

1200 Menschen stehen auf der Warteliste des Altenheims

"Wir haben Träume, die keiner hört", sagen sie. Jeder habe seine eigene unglaubliche Geschichte. "Wir sprechen lieber über heute", sagt Chava. Wie gut das Essen ist und ob sie Bridge spielen wollen. Vielleicht singen sie auch zusammen. Das Leben vertreibt dunkle Erinnerungen.

Dieses Wohnheim ist nur für Überlebende der Schoah. Für jene, die kein Geld haben, um sich selbst zu versorgen. Kürzlich eröffnet, hämmern noch Handwerker in den Zimmern. Schon ist Platz für 30 Menschen, es sollen 180 werden. Laut Schätzungen leben 210 000 Überlebende in Israel, davon wohl jeder Dritte unterhalb der Armutsgrenze. Schon jetzt stehen 1200 Menschen auf der Warteliste.

Im Büro hängt ein Bild von Zipi Livni, der Oppositionsführerin in der Knesset, sie lächelt in die Kamera. Mit einem Tross von Politikern kam sie zur Einweihungsfeier. Mehr passierte nicht. "Die Politiker hier haben uns nicht geholfen", sagt Schimon Sabag. Das sei eine düstere Seite der israelischen Gesellschaft. Schimon ist ein bescheidener Mann mit Brille, der Manager einer Supermarktkette war. Nach einem Autounfall gründete er die Organisation Helfende Hände. Erst eine Suppenküche für Arme, bis ihm auffiel, wie viele Opfer der Schoah kamen.

"Aber die Deutschen haben uns geholfen", sagt er. Die Internationale Christliche Botschaft in Jerusalem sammelte Spenden. Diese Organisation zionistischer Christen hat sich der Hilfe für Israel verschrieben. So konnte Helfende Hände die Nachbarhäuser kaufen; gerade wird ein Fahrstuhl eingebaut. Man dürfe keine Zeit mehr verlieren, er investiere 70 Prozent seiner Energie und des Geldes hier, sagt Sabag. "Wir müssen den Überlebenden jetzt ihre Würde zurückgeben." Das Haus ist das Einzige dieser Art in Israel.

Das Trauma hat die Biografien gebrochen. Fast alle hier nehmen Psychopharmaka. Die können sie von ihrer staatlichen Pension kaum bezahlen, meist sind es weniger als 300 Euro im Monat. Aber auch die Verteilung der deutschen "Entschädigungszahlungen", verwaltet von der Jewish Claims Conference (JCC), scheint hier nicht immer zu klappen. Vor ein paar Wochen erst sind Betrüger in den USA aufgeflogen, die sich als vermeintliche Holocaust-Opfer in Tausenden Fällen deutsche Zahlungen erschlichen haben, insgesamt soll es um mehr als 30 Millionen Euro gehen. Im Verdacht stehen auch Mitarbeiter der JCC.

Darüber können die Menschen hier nur mit dem Kopf schütteln. Viele wollten ihr Leben lang niemanden um Geld bitten und müssen es nun doch. Sie erzählen von Anwälten, die sie betrogen haben, sich Geld in die Tasche gesteckt haben. Sie sagen "Advokat", wie es früher mal hieß. Viele der in Osteuropa geborenen Menschen sprechen Deutsch, auch wenn sie es für Jahrzehnte vergraben hatten. Sie waren Überlebende, die sich wegen ihrer Träume auf Deutsch schämten.

Aber seit Handwerker aus Deutschland hierherkamen und umsonst die Wohnungen ausbauten, ist vielen der Klang der deutschen Sprache, von der sich Wörter wie "Halt", "Stopp", "Eisenbahn", "Vorwärts", "Aktion" in ihr Gedächtnis einbrannten, erträglicher geworden. "Direkte Hilfe wirkt anders als eine Zahl auf dem Kontoauszug", sagt Schimon Sabag.

Miriam hatte es schwer, finanzielle Hilfe zu bekommen, sie stand auf keiner Todesliste. Sie floh mit 16 Jahren aus dem Getto im polnischen Dubno. Weil sie sich an den Straßennamen eines Verstecks in der Ukraine erinnern konnte, erstritt sie mit einem Mitarbeiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem eine kleine Rente: Alle drei Monate bekommt sie 800 Euro.

Heute weiß sie nicht, wie sie damals überleben konnte

Ihre Eltern sagten damals: "Du musst laufen, wir haben nicht die Kraft dazu." Miriam lief, sprang auf Züge, schlief in Ställen neben Kühen. Freunde beschafften ihr einen Pass mit christlichem Namen, "Romualda Sokolowska", so reiste sie bis nach Odessa. Die Gestapo stempelte ihren Pass. Als eine Familie sie zu Weinachten aufnahm, wusste sie nicht, wie man sich bekreuzigt. Jeder Fehler hätte den Tod bedeuten können. Sie hätte rot im Gesicht werden können bei einer Kontrolle. Dieser Gedanke kreist nun täglich in ihrem Kopf.

"Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe", sagt Miriam, als hätte sie auch Angst vor sich selbst. Als sie ihre zwei Kinder großzog und in Tel Aviv lebte, habe sie keine Zeit gehabt, das an sich ranzulassen. Als ihr Mann starb, wollte sie weg aus der Stadt, in der junge Menschen das Tempo bestimmen.

Ein Foto ist Miriam geblieben von ihrem Leben vor dem Holocaust. Es steht zwischen Stoffpuppen und bunten Masken, die sie gebastelt hat. Ihr Zwei-Zimmer-Apartment sieht aus wie ein Kinderzimmer. Das vergrößerte Bild zeigt eine 16-Jährige mit einem Lächeln voller Neugierde. Als sie 1944 in einem Zug nach Palästina saß, die grünen Felder der Kibbuze durch die Fenster sah, fielen ihr die Zähne aus. Sie hatte drei Jahre lang gehungert.

Heute ist sie Vegetarierin, sie kann kein Fleisch mehr essen. Seit sie die Geschichte mit Heinz, dem Koch, erlebt hat, in einer Küche, in der sie auf der Flucht arbeitete. "Sie haben uns Juden behandelt, als wären wir Tiere.""Judenrein", Miriam sagt dieses Wort ohne Emotion. Sie hat in Büchern gelesen, was ihren Eltern in Dubno geschehen ist: Schergen der SS haben die Menschen dort erschossen, einen nach dem anderen, bis die Grube voller Leichen war. Die Schreie hört sie in ihrer Fantasie, und doch sind sie echt. Miriams Vater war Doktor der Philosophie. 50 Jahre alt war er bei seinem Tod, sagt Miriam. Ihr Blick ist nicht anklagend, aber unerträglich. "Wir dürfen das nicht vergessen, nicht vergessen, nicht vergessen." Es hat gedauert, bis Überlebende diese klaren Worte gefunden haben. Über das Leben in den späten 40er- und den 50er-Jahren sagt Chava: "Die anderen dachten doch, wir wären verrückt, keiner hat die Geschichten geglaubt." Und da sei der Vorwurf gewesen, sie hätten sich wie die Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. "Wir waren Hunderte und die Deutschen manchmal nur ein paar Soldaten mit Gewehren. Die Leute hier haben gefragt, wie kann das sein."

Der Historiker Tom Segev nennt diese Generation in seinem Buch "The seventh million", die siebte Million. Die Geschichten der Holocaust-Überlebenden haben in Israel erst in den 60er-Jahren, parallel zum Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, eine breite Öffentlichkeit bekommen.

Viele versuchten das Unmögliche nach ihrer Ankunft: ein normales Leben zu leben. "Nicht daran denken, um nicht meschugge zu werden", sagt Chava. Sie arbeitete als Sekretärin und gründete eine Familie. Mit ihren Kindern wollte sie nie über den Holocaust sprechen. Und bis heute will sie nicht nach Rumänien fahren und sich die Orte ihrer Jugend anschauen. Sie hat Angst, Israel zu verlassen.

Sie fühlen sich wie Waisen im Rentenalter

Sie kam 1944 mit ihrer Schwester nach Palästina, auf einem Schiff mit anderen Kindern. Sie waren alleine, sagt sie, und irgendwie seien sie das immer geblieben. Sie fühlen sich wie Waisenkinder im Rentenalter. Und sind gleichzeitig Mütter. "Wir haben die Nazis besiegt, weil wir Kinder haben."

Der Tisch ist gedeckt, und Jozef Künstlich hat Hunger. Er angelt sich ein Stück vom geschmorten Huhn, dazu Humus, Gurken, Hackfleisch mit Schafskäse und sauer eingelegter Kohl. Er isst hastig, während er seinen Teller immer wieder auffüllt, die Töpfe und Schüsseln auf dem Tisch im Blick behält. Als vier Damen zum Essen kommen, zwinkert er: "Schau mal, ganz viele Weiber." Er redet viel und auf seine Art beinahe gerne über seine Zeit in Buchenwald und Auschwitz. Ein bisschen zu viel, finden die anderen.

Sie strenge das alles viel zu sehr an, sagen sie. Dennoch lachen viele, wenn Jozef seine Witze auf Hebräisch reißt. Er ist einer, der ein Ventil gefunden hat. Das lenkt auch die anderen Bewohner am Tisch ab. Jozef zeigt seine tätowierte Nummer auf dem Unterarm, "B4285". Und seine Trophäe: eine Wertmarke über eine halbe Reichsmark. Darauf steht "SS-Standort-Kantine, Buchenwald". Er hat sie eingesteckt, als die Deutschen vor den Amerikanern flüchteten. Die Gefangenen dort hatten es auch geschafft, über ein Funkgerät mit der US-Armee zu sprechen. Darauf ist Jozef stolz.

Der Malermeister im Ruhestand wohnt noch in einer Wohnung in der Nachbarschaft. Er kam erst zum Essen hierher, nun will er einziehen. "Ich muss 42 Treppenstufen hinaufgehen", sagt er. Im Alter beschäftigt man sich eben sehr genau mit den Dingen. Zu Hause habe er vier Wände, sagt Jozef. Dann zeigt er auf die anderen an den Tischen. "Und hier habe ich Leben."

Miriam hat sich wieder ins Zimmer zurückgezogen. Jemand spielt Klavier im oberen Stock, Beethovens "Für Elise". Sie sitzt auf ihrem Stuhl neben dem Bett, neben ihren Puppen und Masken. Gerade hat sie eine Kerze mit Papier und silbernen Sternen beklebt. "Nein, ich hasse die Deutschen nicht", sagt sie. "Nicht die späteren Generationen." Man dürfe Menschen nicht aufgrund ihres Geburtsorts verurteilen.

Immerhin, eine einzige gute Erinnerung an Deutsche hat sie. Als sie in Rumänien untergetaucht war, in einem kleinen Zimmer bei einer Familie, wohnten dort auch deutsche Soldaten. Eines nachts soffen und grölten sie. Ein junger Landser fing Miriam vor dem Haus ab und erzählte ihr von seiner christlichen Mutter, die ihm gesagt habe, dass er die Menschen gut behandeln müsse, um selbst gesund zu bleiben. Dann warnte er sie: "Die anderen kommen heute Nacht in dein Zimmer, um dich zu vergewaltigen." Miriam lief, zurück zu den Gleisen und sprang auf den nächsten Zug.

Sie zeigt auf ihre Brust, dann auf ihren Hals. "Wissen Sie", sagt sie, "die Deutschen, die ich treffe, tragen an dieser Stelle alle diesen Stein hier." Sie kämen hierher und helfen. Dann fühlten sie sich etwas leichter, sagt Miriam.

Ein bisschen leiden auch sie.