Angeklagter muss nach Zeugenaussage mit Anklage wegen versuchten Totschlags rechnen

Wandsbek. Der Prozess steckt voller Überraschungen. Die erste: Den ursprünglichen Vorwurf gegen den Angeklagten Peter E. wird die Staatsanwaltschaft wohl nicht aufrechterhalten können. Grund: In der Vernehmung, gestern vor dem Amtsgericht Wandsbek widersprach das mutmaßliche Opfer seiner ersten Aussage. Nun droht dem 61-Jährigen gar eine Anklage wegen versuchten Totschlags. Angeklagt war Peter E. bisher wegen unterlassener Hilfeleistung. Während eines Streits mit seiner Nachbarin Angelika B. sei die Frau aus "bislang nicht geklärten Gründen" durch eine stabile Glasscheibe acht Meter tief in den Fahrstuhlschacht ihres Wohnhauses an der Ahrensburger Straße gestürzt. Peter E., so der Vorwurf, habe das Haus verlassen, ohne Hilfe zu holen.

Mit einem Rollator und einer Betreuerin betrat Angelika B. den Gerichtssaal, tief haben sich die Falten in das verhärmte Gesicht der 59 Jahre alten Frau mit den grauen, schütteren Haaren gegraben. Gegenüber der Polizei hatte sie kurz nach dem "Unfall" am 2. Oktober 2009 ausgesagt, sie habe sich "schnell gedreht" und sei irgendwie in den Schacht gefallen. Gestern hingegen gab sie Peter E. die Schuld. "Er hat mich geschubst", sagte sie. Zwölf Tage habe sie im künstlichen Koma gelegen.

Die zweite Überraschung ist der Auslöser für das Zerwürfnis. "In der Nacht zuvor wurde meine Katze geklaut", sagte sie. "Ich bin dann zu Peter, weil ich wusste: Seine Freundin hat die Katze." Die Freundin, Bettina G., wohnt ebenfalls in dem Hochhaus. Nachdem sie gegen Mittag "zwei oder drei Gläser Weinbrand" getrunken habe, habe sie Peter E. im Flur getroffen, berichtet Angelika B. "Er schrie: 'Lass Bettina in Ruhe'", da habe er sie geschubst. Ein Zeuge, der den Vorfall zufällig beobachtete, habe Hilfe gerufen.

Die dritte Überraschung: Die Polizei entdeckte auf dem Fahrstuhldach Glassplitter - dabei hatte Angelika B. angegeben, dass sich der Aufzug zum Zeitpunkt des Sturzes definitiv über ihr befunden habe. "Ein spannender Fall", sagte der Richter. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun, wie schon direkt nach der Tat, in Richtung eines versuchten Totschlags - vermutlich wird der Fall vor der nächsten Instanz, dem Landgericht, neu aufgerollt.