Gorleben 21: Mehr Volksentscheide und Schlichtungen können nicht die Antwort auf den Protest der Bürger sein, meint Baden-Württembergs Ministerpräsident.

Wir alle stehen noch unter dem Eindruck der schlimmen Bilder aus dem Wendland. Bilder, die es glücklicherweise seit dem 30. September aus Stuttgart nicht mehr gegeben hat, nachdem ich Heiner Geißler gebeten habe, dort die Vermittlung im Zusammenhang mit dem Projekt Stuttgart 21 zu übernehmen.

Bei allen Unterschieden zwischen den Castortransporten und dem Zukunftsprojekt in Baden-Württemberg bleibt festzuhalten: Die Castortransporte sind ebenso Folge demokratisch herbeigeführter Entscheidungen wie der Baubeginn in Stuttgart.

Die Entscheidung für Stuttgart 21 ist über einen langen Zeitraum gefallen − in einem öffentlichen, demokratischen Prozess und gerichtlich überprüft. Und dennoch erlebten wir in den vergangenen Wochen eine Protestbewegung gegen das Vorhaben, wie sie Deutschland selten gesehen hat.

Dabei geht es nicht um Krieg oder Frieden, sondern "nur" um einen Bahnhof und eine Neubaustrecke. Warum? Das Projekt ist legal, aber es tut sich noch schwer, auch als legitim anerkannt zu werden. Die oft zitierte "Legitimation durch Verfahren" scheint bei Stuttgart 21 an ihre Grenzen zu stoßen: Wir alle in der Politik haben uns zu lange auf die Bindungskraft der rechtmäßig durchgeführten institutionellen Verfahren verlassen und dabei nicht hinreichend bedacht, dass in einer Mediendemokratie insbesondere Kommunikation und öffentliche Diskussion - auch abseits der Parlamente - essenzielle Teile dieser Verfahren sind.

Erst seit die Bagger rollen, äußern viele Menschen ihre Bedenken. Daraus müssen und wollen wir lernen. Die Schlichtungsgespräche mit Heiner Geißler können Versäumtes nachholen und die Akzeptanz von Stuttgart 21 weiter wachsen lassen.

Eine nachträgliche Schlichtung ist aber kein Königsweg für zukünftige Großprojekte in der Zukunft. Und ein wirtschaftsstarkes Land wie Deutschland braucht, wenn es das bleiben will, auch weiterhin große Projekte.

Der eigentliche Rahmen, um Konflikte über Planungen auszutragen, sind die hierfür vorgesehenen Genehmigungs- und Planfeststellungsverfahren, die den Betroffenen vielfache Einwendungs- und Gestaltungsmöglichkeiten einräumen. Diese Verfahren müssen bei Großprojekten noch straffer und von Beginn an transparenter ausgestaltet werden. So kann - auch bei unterschiedlichen Auffassungen in der Sache - von Anfang an Vertrauen geschaffen und damit Legitimität hergestellt werden.

Dagegen zu sein ist populär, einfach und bequem - und mag gerade bei Großprojekten mit vielfältigen Problemen für die Betroffenen sogar verständlich sein. Aber das Dagegen bedeutet auch Stillstand. Als Gesellschaft können wir uns aber nur weiterentwickeln, wenn wir offen für Veränderungen sind. Die Proteste gegen Stuttgart 21 erreichten eine Dimension, die sich nicht alleine mit dem Bau eines Bahnhofs erklären lässt, sondern eine Systemfrage berührt: Brauchen wir mehr direkte Demokratie?

Volksentscheide beinhalten aber keinen höheren Grad an demokratischer Legitimation als parlamentarische Entscheidungen. Die Minderheit hat sich bei beiden Formen dem Willen der Mehrheit unterzuordnen. Und ob es bei einem Volksentscheid weniger emotional zuginge? Die Emotionalisierung des Streits um Stuttgart 21 reichte jedenfalls zeitweise so weit, dass sie Gräben in Familien und Freundeskreise zu reißen drohte. Es ist zu bezweifeln, dass ein Volksentscheid tatsächlich mehr zur Beruhigung der Gemüter beigetragen hätte, als wenn die Diskussion - (hoffentlich) weniger emotional, dafür stärker sachorientiert - von Vertretern für das Volk ausgetragen wird.

Der große Vorteil parlamentarischer Gesetzgebung ist, dass Gesetze im Verlauf des Verfahrens geändert und so wesentlich verbessert werden können. Für einen Volksentscheid dagegen muss das Ringen um die beste Lösung bei jedem noch so komplexen Thema an einem Abstimmungstag X auf ein simples Ja/Nein reduziert werden. Kompromisse, die die Akzeptanz, die Legitimität einer Entscheidung erhöhen, sind beim Volksentscheid kaum möglich.

Ich habe große Achtung vor allen Bürgerinnen und Bürgern, die für ihre Überzeugungen demonstrieren. Solange dies friedlich geschieht, adelt es die Demokratie, allerdings nur dann. Unsere repräsentative Demokratie aber hat uns über 60 Jahre Frieden und Wohlstand gebracht. Dies dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.

Demokratie ist eine Einladung an uns alle, konstruktiv die Zukunft unseres Landes mitzugestalten. Demokratische Verfahren brauchen Zeit für Beratung und Abwägung - mit einem Mausklick ist es nicht getan. Demokratische Entscheidungen herbeizuführen ist mühsam, kompliziert und zeitaufwendig, wie viele jetzt nach dem Beobachten der Schlichtungsgespräche in Stuttgart nachvollziehen können. Dennoch: Das Engagement der Menschen zeigt auch, dass wir in einen kritischen Diskurs eintreten müssen, wie Verfahren transparenter und nachvollziehbarer werden - damit Legitimation durch Vertrauen entsteht.