Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall.

Blass sieht sie aus und angegriffen. Mühsam kämpft sie die Tränen nieder, die ihr in die Augen zu schießen drohen. Die Erinnerungen an jenen grauenhaften Tag schmerzen immer noch. An den Tag, als ihr Leben sich mit rasanter Geschwindigkeit auf einen Abgrund zuzubewegen schien. Als Nelly D. erfuhr, dass ihr Mann aus dem Leben gerissen worden war und sie Witwe. "Es tut immer noch so weh", erzählt die 49-Jährige mit leiser Stimme auf dem Gerichtsflur. Sie ist gekommen, um zu erfahren, was genau geschehen ist. Wer die Verantwortung trägt für den Tod ihres Mannes, dessen Kopf auf einer Baustelle von einer umstürzenden Telefonsäule gleichsam zertrümmert wurde.

Als Nebenklägerin sitzt Nelly D. nun im Prozess dem Mann gegenüber, der aus Sicht der Staatsanwaltschaft den Tod des damals 49-jährigen Viktor D. verschuldet hat. Fahrlässige Tötung lautet der Vorwurf gegen den Baufacharbeiter Reinhard W. Ihm wird zur Last gelegt, am 23. Januar 2008 als verantwortlicher Vertreter einer Tiefbaufirma bei einer Baustelle unter anderem nicht dafür gesorgt zu haben, dass eine Baugrube ausreichend abgestützt wurde. Daraufhin sei eine unmittelbar neben der Grube stehende Telefonsäule umgekippt. Ihr Betonsockel erschlug den Bauarbeiter, der zudem laut Ermittlungen keinen Helm trug.

59 Jahre alt ist Reinhard W., ein Mann mit weißem Haar und hoher Stirn, unter seinem Ringelpulli wölbt sich ein deutlicher Bauch. Die Geschehnisse von damals haben auch bei ihm Spuren hinterlassen, er wirkt angeschlagen. Er habe einen Kollegen verloren, betont er, mit dem er jahrelang auf Baustellen zusammengearbeitet hat. Doch an jenem Tag sei er wegen einer Erkrankung eines Vorgesetzten aufgefordert worden, die Kollegen als Verantwortlicher auf der neuen Baustelle einzuweisen. Wegen notwendiger Reparaturarbeiten an einem 10 000-Volt-Kabel in drei Meter Tiefe hätten sie eine Grube ausheben müssen, in direkter Nähe einer Telefonsäule. "Ich sagte noch: 'Passt auf, dass die nicht runterkommt!'", erinnert sich der Angeklagte. "Jeder auf dem Bau weiß", betont der Familienvater, dass "ab einer Tiefe von 1,20 Meter verschalt", also die Baugrube mit Bohlen stabilisiert werden müsse. Dann sei er zu einer anderen Baustelle beordert worden. "Ein paar Stunden später kam der Anruf, dass ein Unfall passiert ist." Seine sonst so kräftige, tiefe Stimme ist nur noch ein Flüstern.

Ein Kollege erinnert sich als Zeuge an eine Diskussion, die die Bauarbeiter wegen der Telefonsäule gehabt hätten. "Ich dachte gleich, das Ding wird uns Probleme machen", erzählt er. Ein enormes Gewicht auf dem sandigen Boden sei es gewesen. Sie hätten noch darüber diskutiert, dass die Grube "rechtzeitig" mit Bohlen verschalt werden müsse. "Was rechtzeitig ist, hängt auch von den Bodenverhältnissen ab", erläutert der 41-Jährige. "Ich hätte früher angefangen zu verschalen."

Er sei jedoch von Reinhard W., der nicht zum ersten Mal in verantwortlicher Position als Schachtmeister an einer Baustelle eingesetzt war, zunächst noch für andere Arbeiten eingeteilt worden. "Dann wollte ich mich dranmachen, die Bohlen zu holen, da höre ich auch schon ein Rumsen, einen Knall, und da fällt die Telefonsäule um. Der Kollege lag drunter." Das spätere Opfer habe keinen Helm getragen, ergänzt ein weiterer Zeuge. Auf die Frage des Amtsrichters nach dem "Warum" zuckt er nur ratlos mit den Schultern. Doch aus gerichtsmedizinischer Sicht ist nicht sicher, dass ein Helm die schweren Verletzungen hätten abmildern oder gar verhindern können.

Eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 30 Euro fordert der Staatsanwalt schließlich für den Angeklagten, der Verteidiger beantragt einen Freispruch. Der Amtsrichter verurteilt Reinhard W. wegen fahrlässiger Tötung, erkennt jedoch auf die denkbar mildeste Strafe, eine sogenannte Verwarnung mit Strafvorbehalt. Bei dieser "Geldstrafe auf Bewährung" muss der 59-Jährige laut Urteil nur dann eine Geldstrafe von 2700 Euro zahlen, wenn er sich innerhalb der nächsten zwei Jahre etwas zu Schulden kommen lässt. "Alle auf der Baustelle", erklärt der Richter, hätten erkennen können, dass in diesem Fall nicht erst in der sonst üblichen Tiefe von 1,20 Metern, sondern schon früher hätte verschalt werden müssen. Aber Reinhard W., betont er mit Blick auf den Angeklagten, hätte dies auch anweisen müssen. "Sie waren der Chef." Reinhard W. wirkt angesichts dieser Mahnung matt und kraftlos. Ähnlich wie Witwe Nelly D., als sie den Gerichtssaal verlässt - schweigsam und mit gesenktem Kopf.