Das Programm Seitenwechsel bietet Führungskräften die Gelegenheit, Praktika in sozialen Berufen zu machen.

Hamburg. Vor der Eingangstür, vor einem möglichen Zusammentreffen mit den Drogenabhängigen, wurde ihr mulmig. Sie hatte Angst vor körperlichem Kontakt, "richtig Muffensausen", wie Katharina Benson sagt. Da stand diese Traube von Drogenkonsumenten vor der Beratungsstelle Drob Inn in St. Georg und Katharina Benson hatte Angst, Berührungsängste. Sie nahm den Nebeneingang. Eine Tür in eine andere Welt.

Katharina Benson ist Personalleiterin beim Outdoorspezialisten Globetrotter, verantwortlich für 600 Mitarbeiter in Hamburg. Anfang des Jahres tauschte sie ihren Arbeitsplatz und wechselte auf die andere Seite des Lebens. Eine Woche lang arbeitete die 46-Jährige als Praktikantin im Drob Inn am Besenbinderhof. Sie hat dort Tee und Kaffee ausgeschenkt, Essen verteilt. Sie hat den Drogenabhängigen die Türen zu den Duschräumen geöffnet, sie war im Druckraum. Dieser geflieste, sterile Ort, wo Frau Benson den Konsumenten saubere Spritzen und Pflaster ausgehändigt hat, damit sich die Abhängigen vorrangig Heroin spritzen können. Zwei, drei Tage brauchte sie, um die vielen Eindrücke zu verarbeiten.

"Das zu sehen", Katharina Benson sucht nach Worten, "das war unglaublich. Da stehen wir Normalos staunend davor und können das nicht nachvollziehen, was Sucht bedeutet. Das ist bitter. Auch junge Menschen sind darunter. Und ganz bieder Wirkende mit Frau und Kind zu Hause."

Schockierend war es am Anfang, mittendrin zu sein in der Drogenszene. Aber sie hatte sich diese Einrichtung selbst ausgesucht: Frau Benson hat am "Seitenwechsel"-Programm teilgenommen, das Führungskräfte aus der Wirtschaft mit Menschen zusammenbringt, die am Rande der Gesellschaft leben. Es ist ein Ausstieg aus der Welt der Zahlen, Daten und Fakten in eine Welt, in der es nur um Menschen geht. Seit zehn Jahren läuft das Austauschprogramm der Patriotischen Gesellschaft von 1765.

Wenn Führungskräfte wie Personalleiterin Katharina Benson ihren Schreibtisch verlassen und hinausgehen in eine für sie fremde Welt, geht es darum, einen neuen Blickwinkel zu finden, Grenzen zu überschreiten und voneinander zu lernen. Zu erleben, dass Menschen eben doch unterschiedlich sind. "In meinem Job werde ich immer wieder zu Verallgemeinerungen gezwungen. Ich muss Regeln aufstellen, die dann für alle gelten sollen", sagt Frau Benson. Die Arbeit im Drob Inn habe ihr gezeigt, dass aber jeder Mensch ein Individuum, ein Einzelfall, ist. Das Erlebte hat bleibende Eindrücke hinterlassen. "Die Zeit dort hat mich darin bestätigt, dass es richtig ist, noch mehr auf jeden meiner Mitarbeiter einzeln einzugehen und bestehende Regelungen auch einmal über Bord zu werfen."

Wann schon erfährt eine Personalleiterin vom Leben eines Drogenabhängigen? Woher weiß ein Banker, wie Kinder ticken, deren Eltern sie schlagen? Wann kommt ein Airbus-Manager mit körperlich und geistig Behinderten in Kontakt? Doris Tito schafft diese Verbindungen. "Wir bringen Menschen zusammen, die sich sonst nicht treffen würden", sagt die Programmleiterin von Seitenwechsel. Etwa 580 Seitenwechsel hat sie allein in Hamburg organisiert. Für Manager sei es wichtig und lehrreich, sich zwischendurch einmal nur mit Menschen zu befassen. "Führungskräfte haben einen hochgradig getakteten Alltag. Sie befassen sich häufig mit reinen Fakten und schnellen Problemlösungen, dabei bleibt aber der Blick für die Menschen manchmal auf der Strecke", sagt Doris Tito. Chefs, das kennen viele Arbeitnehmer, rennen von einem Meeting ins nächste und verlieren dabei leicht den Blick für ihre Mitarbeiter, Zeit für Gespräche bleiben kaum. Die kleine Auszeit von der üblichen Tätigkeit kann daher eine echte Bereicherung sein.

"Es bildet die Sozialkompetenz aus. Ganz simpel", sagt Frank Brockmann. Der 47-Jährige ist eigentlich ein Mann der Zahlen und Bilanzen - und im Haspa-Vorstand verantwortlich für die Firmenkunden und für 500 Mitarbeiter. Ein Anzugträger mit Krawatte, der vor fünf Jahren seine Bürogarderobe eintauschte gegen eine Jeans und eine Woche lang im Kinder- und Jugendhaus St. Elisabeth hospitierte, die Tage mit Kindern und Jugendlichen im Alter von einem bis 14 Jahren verbrachte. Er frühstückte mit ihnen, begleitete sie auf Ausflügen in die Stadt oder in den Schmetterlingsgarten im Sachsenwald und hörte ihnen einfach zu. Kinder, die nicht in ihren Familien leben können, weil ihre Eltern alkohol- oder drogenabhängig sind, weil sie in ihren Familien vernachlässigt oder misshandelt werden. "Diese Kinder haben mich extrem bewegt", sagt Frank Brockmann, selbst dreifacher Vater. "Das sind ganz, ganz nette Kinder, die sich einfach über kleine Aufmerksamkeiten freuen."

So ausgeprägt hatte er sich das vor seinem Praktikum nicht gedacht. Und genau darum geht es beim Seitenwechsel auch: Vorurteile abbauen, andere Lebenswelten kennenlernen. "Es war beeindruckend, wie die Betreuer in ihrer Arbeit aufgehen." In einer Arbeit, die sich anders als in der Bankenwelt von Frank Brockmann weniger an Leistung orientiert. "Ich habe mein Wertesystem und meine eigene Position überprüft." Der Perspektivenwechsel habe ihm Impulse für die tägliche Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern in dem Geldinstitut gegeben.

"Viele Manager sagen mir nach ihrem Seitenwechsel, dass sie wieder Bodenhaftung gefunden haben, wieder sensibilisiert sind", sagt Frau Tito.

Das kann Martin van der Vorst, beim Flugzeugbauer EADS zuständig für das Energiemanagement, bestätigen. Der 43-Jährige hat eine Woche lang in der Behindertenwohngruppe Swatten Weg in Lurup hospitiert, "weil ich aus meiner eigenen Komfortzone heraus und Grenzen überschreiten wollte", sagt er. Die Zeit mit den Behinderten hat ihn ein wenig verändert. "Ich kann jetzt mehr Verständnis aufbringen für Mitarbeiter, die selbst pflegebedürftige Angehörige haben oder schwer krank sind." Als der Manager nach seinem Praktikum einem behinderten Menschen an der Mönckebergstraße beim Einsteigen in den HVV-Bus half, durchströmte ihn, wie er sagt, ein warmes Gefühl. Das hört sich hochtrabend an, meint aber, dass er keine Berührungsängste mehr hatte.

Sein Fazit: "Es ist wichtig, nicht nur auf die Schnelle Meetings abzuhalten. Mehr Emotionalität im Job erweitert den Horizont, und es kann bei der Führung helfen." Und: Wenn die eigenen Mitarbeiter sehen, dass der Chef sich nicht scheut, behinderten Mitmenschen beim Duschen zu helfen, mit ihnen spielt und in der Nachtschicht sogar in der Wohngruppe übernachtet, schaffe das eine neue Art von Vertrauen. "Meine Mitarbeiter sind seitdem offener und erzählen eher von eigenen Problemen."

Und auch die Gegenseite profitiert von den Seitenwechslern: "Wir haben so die Möglichkeit, unsere Arbeit transparent zu machen und Akzeptanz für unsere Klientel zu schaffen", sagt Peter Möller, Leiter des Drob Inn. Die Wertschätzung ihrer Arbeit ist ein Grund, warum die sozialen Einrichtungen am Seitenwechsel mitmachen. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Seiten können sich annähern. Peter Möller: "Die Führungskräfte sehen die Realität, und die Arbeit mit Drogenabhängigen wird entmystifiziert." Jutta Hofmann-Gerke von der Wohngruppe Swatten Weg erhofft sich auch Zukunftschancen für ihre Schützlinge: "Wir wünschen uns langfristig mehr Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt." Der Einsatz der Seitenwechsler erhöhe die Sensibilisierung für dieses Thema.

Gelegentlich kommt es zu Gegenbesuchen. Martin van der Vorst führt seit seinem Praktikum in der Behindertenwohngruppe die Bewohner regelmäßig über das Airbusgelände. Manche Manager bleiben den Einrichtungen verbunden. Eine Abteilungsleiterin von Bonprix arbeitet ehrenamtlich im Kinder- und Jugendhaus St. Elisabeth und kocht sonnabends für die Kinder. Bei Globetrotter hat ein ehemaliger Drogenkonsument einen Job gefunden. Die Personalleiterin ist Katharina Benson.