Zahlreiche Initiativen, kirchliche und gewerkschaftliche Gruppen kümmern sich um ein tolerantes, respektvolles Miteinander von Einheimischen und Ausländern

Die Floskel gehört zum Repertoire der Integrationsdebatte: "Multikulti ist gescheitert." Die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung beteuert es gegenüber dem Abendblatt. Die Bundeskanzlerin sagte es mehrmals. Der Bundespräsident proklamierte anlässlich seines Türkeibesuchs in seiner ansonsten auf ein versöhnliches Miteinander abzielenden Rede den Abschied von "multikulturellen Illusionen".

Nur: Was ist damit gemeint? "Multikulti", wenn man darunter eine unkritische Haltung gegenüber Migranten und blindes Vertrauen in deren Anpassungswillen versteht, gibt es seit vielen Jahren nicht mehr. Und staatliches Handeln war weder zu rot-grünen noch zu schwarz-gelben Regierungszeiten von einem solchen Leitgedanken geprägt. Wenn ich manche Beteuerungen höre, zum Beispiel Horst Seehofer mit dem Satz von anno dunnemals: "Wir sind kein Einwanderungsland", fühle ich mich in die Auseinandersetzungen der 80er-Jahre zurückversetzt. Dabei waren wir doch schon weiter!

Dass wir ein Einwanderungsland sind, ist allgemein akzeptiert. Für die Integration und das Prinzip "Fördern und Fordern" wurde seit Beginn des 21. Jahrhunderts mehr geleistet als in den Jahrzehnten davor. Die Staatsangehörigkeitsreform von 2000 und das Zuwanderungsgesetz von 2005 formulierten die wichtigsten Anforderungen an Sprachkenntnisse und Verfassungstreue von Migranten. Dann kamen der "Integrationsgipfel" und die "Islamkonferenz" - Diskussionsplattformen mit durchaus, pardon!, multikulturellen Zügen. Was es jedoch lange vorher gab und dankenswerter Weise weiterhin gibt, sind zahlreiche Initiativen, kirchliche und gewerkschaftliche Gruppen und Personen, die sich um ein tolerantes, respektvolles Miteinander von Einheimischen und Ausländern kümmern.

Diese als "Gutmenschen" geschmähten Leute haben viel Positives bewirkt, bevor überhaupt der Staat seine Verpflichtung zur Gestaltung der Einwanderung entdeckte. Mag sein, dass sie mit reichlich Optimismus ans Werk gingen und bei den meisten Ausländern erst mal guten Willen und Lernbereitschaft voraussetzten. Aber ist das so falsch, wenn man mit Menschen überhaupt ins Gespräch kommen möchte? Ihnen signalisieren will, dass sie hierzulande willkommen sind? Dass man von ihren Lebensgewohnheiten vielleicht auch etwas lernen kann? Gastfreundschaft etwa oder Empathie? Dass sie unser Zusammenleben nicht nur belasten, sondern auch bereichern?

Über all das sagte nämlich die Gesetzgebung der Achtziger- und Neunzigerjahre wenig aus. Die Vorschriften bis zur Erlangung eines dauerhaften Aufenthaltsrechts für Ausländer waren kompliziert, die Einbürgerungsregeln restriktiv. Die schon damals vorhandenen Integrationsdefizite (Gettoisierung, massive Ausbildungs- und Arbeitsmarktprobleme bei jungen Migranten) wurden kaum bekämpft. Dagegen engagierten sich Bürgerinnen und Bürger und zeigten den Zugezogenen ein weltoffeneres Deutschland. Und sie tun es weiterhin. Sie praktizieren "Multikulti". Von Scheitern keine Rede. Es gibt quer durch die Bundesrepublik viele fantasievolle Initiativen, die sich etwa unter dem Dach des bundesweit agierenden "Bündnisses für Demokratie und Toleranz" versammeln. Viele fragen sich allerdings, ob ihr Bemühen um ein Zusammenwirken der Kulturen noch zeitgemäß ist - wo es doch in der Post-Sarrazin-Debatte Mode geworden ist, Migranten streng auf Integrationsverweigerung zu taxieren.

Klar, Gesetze müssen Möglichkeiten und Grenzen aufzeigen. Sanktionen sind richtig, wo Wille und Bereitschaft zur Eingliederung fehlen. Aber der erhobene Zeigefinger genügt nicht. Die ausgestreckte Hand ist auch nötig! Ein Staat kann mehr von Zuwanderern fordern, wenn er auch zu fördern bereit ist.

Zum Glück bürsten einige gegen den Strich. Was ist es anderes als Multikulti, wenn sich Frauen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe zum Kochkursus treffen und nebenbei Deutsch üben? Wenn Workshops gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit im Sport stattfinden? Oder wenn das Thalia-Theater eine Reihe "Thalia Migration: Stadttheater für alle" startet und dazu unter anderem den iranischen Jugendverband einlädt? "Nathan der Weise" wird auch gezeigt ... Oder wenn demnächst in Altona im Rahmen der Aktionswoche gegen Fremdenfeindlichkeit ein Kindermusikfest steigt? Da erweist sich Multikulti nicht als schlecht verdaulicher Cocktail, sondern als Ausdruck des vitalen Interesses der Zivilgesellschaft am interkulturellen Dialog. Den brauchen wir. Jetzt besonders. Multikulti? - Ja, bitte.

Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD), 68, war von 1998 bis 2002 Staatssekretärin im Bundesinnenministerium.