Helmut Rüster, 62, ist Sprecher der Opferhilfsorganisation Weißer Ring.

1. 11984 hatte ein Gutachten dem Vergewaltiger Bernhard S. eine "Sexualstörung in Form eines Sadismus" bescheinigt. 2009 hingegen stufte ihn ein Sachverständiger als "ungefährlich" ein. Wie verlässlich sind Gutachten?

Helmut Rüster:

Gutachten kranken daran, dass sie keine Sicherheiten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten bieten. Allerdings hätte die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls bei einem so gefährlichen Täter noch deutlicher bestimmt werden müssen. Grundsätzlich: Erst wenn mehrere unabhängige Gutachten zu einem Ergebnis kommen, sollte eine Freilassung überhaupt erwogen werden. Das kostet natürlich viel Geld. Aber ein moderner Rechtsstaat muss sich daran messen lassen, wie er seine Bevölkerung schützt - und nicht die Interessen eines einzelnen Schwerkriminellen.

2. In diesem Fall ist es schiefgegangen. Sehen Sie Konsequenzen für die Gutachter selbst?

Rüster:

Gutachter tragen viel Verantwortung. Wer professionell andere Menschen begutachtet und so offensichtlich versagt wie im Fall von Bernhard S., sollte auch sanktioniert werden. In Sachen Sicherheit für die Bevölkerung darf es keine Denkverbote geben

3. Welche Schwierigkeiten tauchen bei der Begutachtung auf?

Rüster:

Die Gutachter müssen sich ein Gesamtbild des Täters verschaffen. Das ist oft schwierig, weil raffinierte Täter trickreich einen guten Eindruck vortäuschen können. Auf der anderen Seite hat auch der Gutachter - als Beleg für eine erfolgreiche Arbeit - Interesse daran, dass ein seit Jahren in Behandlung befindlicher Täter irgendwann als resozialisiert gilt und das Gefängnis wieder verlassen kann.

4. Der Mann hat nach seiner Entlassung mehrere Therapietermine platzen lassen. Haben die Verantwortlichen zu spät reagiert?

Rüster:

Ich denke, dass hier deutlich früher und konsequenter hätte durchgegriffen werden müssen. Allein der Abbruch der Therapie hätte Folgen für Peter S. haben müssen. Derart kriminellen Menschen muss klar sein, dass sie von der Gesellschaft nicht mit Samthandschuhen angefasst werden.

5. Was ist mit dem Recht auf eine zweite Chance?

Rüster:

Dieses Recht darf kein Automatismus sein. Natürlich ist eine erfolgreiche Resozialisierung wünschenswert, sie ist der beste Opferschutz. Gleichzeitig müssen höchste Anforderungen an eine Freilassung von Tätern wie Bernhard S. geknüpft werden. Wenn etwas passiert ist und Sachverständige dann von einem unvermeidbaren Restrisiko sprechen, klingt das in den Ohren der Opfer wie blanker Hohn, nach dem Motto: Das ist nun mal so. Und am Ende ist wieder mal niemand zuständig. Für die Opfer leider oftmals auch nicht.