Unter Alpenwiesen im Gotthardmassiv bauen 2000 Arbeiter am längsten Tunnel der Welt. Heute durchbricht der Bohrer die letzten Meter.

Die Heidi-Idylle ließ in den vergangenen Tagen kaum daran erinnern, dass hier mitten in den Alpen ein technischer Weltrekord gefeiert werden soll: Die Geranien blühen selbst jetzt Mitte Oktober noch prall in den Balkonkästen der hölzernen Bergbauernhäuser. Stockrosen und Sonnenblumen schmücken die gepflegten Gärten im 2000-Seelen-Dorf Sedrun am Oberalp-Pass. Man sagt "Grüezi" zueinander auf der Straße, auch wenn man sich nicht kennt. Gelegentlich ist das schwere Geläut von großen Kuhglocken aus dem grünen Tal zu hören.

Und manchmal auch ein dumpfes Poltern. Eine Explosion? "Nein", sagt Frank Hanke, "das ist unser Brecher." Der 42-Jährige drahtige Schlosser aus dem fernen Bremerhaven hat seine Schicht gerade beendet und deutet in die Talebene, wo sich neben Kuhwiesen graue Gesteinshalden türmen. Gelbe Förderbänder ragen aus dem Berg davor. Hier werden Gesteinsbrocken aus 800 Meter Tiefe herangekarrt. Dort unten arbeitet der Norddeutsche seit gut sechs Jahren. Als Mineur, wie Tunnelbauer in der Schweiz heißen. Tief unter dem Gotthardmassiv, bei 30 Grad Hitze und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit, ist sein Arbeitsplatz ein riesiges, rundes Loch mit gut zehn Meter Durchmesser, das über einen gigantischen Fahrstuhlschacht im Berg erreicht wird. Meter um Meter gräbt sich dort eine gigantische Tunnelbohrmaschine vor. 20 Meter schafft sie an guten Tagen, oft weniger. Beim Durchstich werden es nur wenige Zentimeter sein - dann ist in einer der beiden Röhren der erste Hauptdurchschlag des Gotthard-Basistunnels erreicht, der Fels auf ganzer Strecke durchbrochen. 57 Kilometer ist die Röhre lang - der längste Tunnel der Welt.

An der Sedrun-Baustelle, in der Tunnelmitte, zelebriert die AlpinTransit AG, Tochter der Schweizer Bahn, dieses Ereignis wie einen Nationalfeiertag. Die roten Kunstflugjets der Schweizer Luftwaffe werden über das Tal donnern, das Schweizer Fernsehen wird Bilder vom Durchbruch live übertragen. Eine Direktschaltung zur EU-Verkehrsministerkonferenz in Luxemburg wird es ebenfalls gegeben. "Wir bauen für Europa", sagt der Schweizer Verkehrsminister Moritz Leuenberger.

Tatsächlich ist der 57 Kilometer lange Tunnel zwischen Erstfeld im Kanton Uri und Bodio im Tessin Kern eines gigantischen Eisenbahn-Ausbauprogramms, zu dem noch drei weitere, aber kleinere Tunnel gehören. Bezeichnet wird das Projekt allgemein als "NEAT" als "Neue Alpentransversale". Leuenberger ist der "Mister Neat", schreibt die Baseler Zeitung. Er selbst spricht in Interviews von einem Jahrhundertbauwerk und einem "Sieg der direkten Demokratie".

Gut 22,4 Milliarden Euro sind per Volksabstimmung 1998 für das Bauprogramm bestimmt worden. Etwa 7, 5 Milliarden Euro wurden für den Gotthard-Basistunnel bereits verbaut. Die Verbindung zwischen Zürich und Mailand soll sich im Personenverkehr mit diesem Tunnel um gut eine Stunde auf zwei Stunden und 40 Minuten verkürzen. Hochgeschwindigkeitszüge werden von 2017 an mit Tempo 250 durch den Tunnel rasen können und dem Flugzeug Konkurrenz machen. Nord-und Südeuropa rücken enger zusammen, sagen die Tunnelplaner. Und vor allem der Gütertransport werde sich durch die Tunnelbauwerke verlagern. Schon jetzt stöhnen viele Alpenorte über die schweren LKW, die die Pässe verstopfen. Im Gotthard-Straßentunnel kommt es immer wieder zu Unfällen. 2001 brannten zwei Lkw dort, elf Menschen starben in den Flammen. Künftig sollen mehr Güter auf die Bahn kommen, hoffen die Schweizer. Bisher schafft ein Alpenzug kaum 1700 Tonnen über die Berge zu schleppen; auf der neuen, fast ebenerdigen Strecke können Güterzüge in einigen Jahren mit 4000 und mehr Tonnen Gewicht unter dem Gotthardmassiv rollen. Zwei Einspurröhren werden dazu gebaut, dazu 178 Querstollen als Fluchtwege. Insgesamt wird der Gotthard-Basistunnel aus rund 153 Kilometer Tunneln und Schächten bestehen.

1998 sind für den Bau die ersten Mineure nach Sedrun gekommen. Hier im Kanton Graubünden ist Schweiz noch Schweiz, wie man sie aus den Heidi-Filmen zu kennen glaubt. Lange waren die Täler isoliert, in Sedrun hat sich die Ursprache Rätoromanisch teilweise halten können. Eine Sprache, die ans Lateinische erinnert. "Via da scola", heißt die Schulstraße. "Da Vender", steht auf vielen Schildern von Häusern, die zu verkaufen sind. Drei, vier Monate im Winter kommen Ski-Touristen - obwohl Sedrun längst nicht an die Beliebtheit des 22 Kilometer entfernten Andermatt anschließen kann. Die Tunnelmineure erwiesen sich daher als Segen. 650 Arbeiter aus Österreich, der Schweiz, Italien und Deutschland lebten in Spitzenzeiten im Ort und zahlten einen Teil der Quellensteuer an die Gemeinde. Heute sind es immer noch rund 450. Sie wohnen in einer Container-Siedlung, der man mit flachgeneigten Holzdächern das typische Aussehen der Bauernhäuser gegeben hat. Im Dreischichtbetrieb arbeiten die Leute. Zehn Tage lang, dann gibt es vier Tage frei. Wandern, Radfahren - das sind die wenigen Freizeitmöglichkeiten. Vielleicht noch in der Peanuts-Bar "abhängen".

Bis 2003 hatte ein findiger Autolackierer sogar eine Art Bordellbetrieb im katholisch geprägten Dorf aufgebaut. Schacht 4 nannten die Arbeiter den Laden. Der Bremerhavener Frank Hanke kickt in seiner Freizeit mit Kollegen lieber auf dem kleinen Sportplatz oberhalb der Baustelle. "Der Verdienst ist gut", sagt er. Gut 3000 Euro netto plus Fahrgeld habe er, deutlich mehr als auf dem Bau in Deutschland. An seinen freien Tagen pendelt der Schlosser zu Frau und der fünfjährigen Tochter nach Bremerhaven. Mehr als 900 Kilometer lang ist eine Strecke. "Manchmal schafft man das in neun, oft aber nur in zwölf Stunden", sagt er. Und dass diese Autobahnfahrten eigentlich gefährlicher erscheinen als das Arbeiten im Tunnel.

Eigentlich. Acht Männer sind bisher ums Leben gekommen auf den Baustellen. Zwei Italiener, in ihrem Fall steht noch ein Prozess gegen die Verantwortlichen wegen fahrlässiger Tötung aus, ein Südafrikaner, ein österreichischer Maschinist und vier Deutsche. Am 24. Juni dieses Jahres starb der letzte der acht, ein deutscher Ingenieur. Er fiel im Tunnel aus einem Personenzug und verletzte sich tödlich. Auch er wird heute beim großen Moment des Durchstichs fehlen. Der österreichische Polier Hubert Bär wird mit einer Barbara-Figur, der Schutzheiligen der Bergleute, auf dem Arm als erster von der Südseite durchs Loch auf die Nordseite steigen. Vorher wird er ein Bild durchreichen, auf dem die acht Toten zu sehen sind. Keiner soll mehr zu Schaden kommen.

Die Mineure sprechen daher wie von einem Kampf mit dem Berg und von Angriffen und Siegen. Denn der Berg hält viele geologische Überraschungen parat. Denn vor etlichen Millionen Jahren, gab es hier ein Urmeer. Mehrere Schichten Sedimente lagerten sich ab, verfestigten sich und waren sauber gestapelt wie Handtücher in Großmutters Schrank. Dann begannen sich durch tektonische Kräfte der Erdplatten die Alpen aufzufalten und schaufelten die Schichten durcheinander. Mal graben die Mineure und ihre Maschinen durch harten Gneis, mal durch festes Granit. Das macht die Werkzeuge schnell mürbe, gelegentlich geht es nur mit Sprengungen voran.

Noch ein halbes Jahr, so schätzt Schlosser Hanke aus Bremerhaven, hat er hier im Tunnel noch Arbeit, dann ist auch der zweite Durchschlag erreicht und der Technikausbau beginnt im Abschnitt Sedrun. Und dann? "Mal sehen", sagte er, "Bremerhaven ist mau mit Jobs, ich werde wohl in der Schweiz bleiben - weiter im Tunnelbau."

Und auch die Sedruner planen schon für die Zeit danach. "Wir müssen jetzt das Geld investieren, das der Tunnel uns gebracht hat", sagt Leo Hug. Der 55-Jährige ist Tourismuschef der Region. Einmal war er bisher im Tunnel und war beeindruckt von dem gigantischen Fahrstuhlschacht für die Arbeiter und der "Multifunktionsstelle" dort unten, wo zukünftige Züge im Notfall die Röhren wechseln können. "Das ist schon kathedralenartig", sagt Hug. "Schade, dass der Fahrstuhl bald zurückgebaut wird." Den Sedrunern schwebte eben etwas anderes vor. Unter dem Stichwort "Porta Alpina" trieb sie die Idee voran, aus der Baustelle in 800 Meter Tiefe und dem Fahrstuhl dorthin einen unterirdischen Bahnhof, eben die "Porta Alpina", machen zu können. Das abgelegene Tal hätte plötzlich Anschluss an die Fernbahnlinien und Metropolen Europas.

Doch das Projekt wurde vom Land zunächst aufs Eis gelegt und die Sedruner ersannen etwas anderes: Im Tal fließt der Rhein als Gebirgsbach, hoch oben am Oberalp-Pass erklärten die Sedruner Tourismusplaner eine Quelle zur Rheinquelle. Gerade bauten sie dort am Pass den 14 Meter hohen Nachbau eines holländischen Leuchtturms auf. Ein zerlegtes Binnenschiff soll in den kommenden Jahren als weiteres Symbol folgen, sagt Hug. Er trägt einen schwarzen Anzug und spricht auch von Marketing und Alleinstellungsmerkmal. "50 Millionen Menschen leben in der Rheinregion - die Rheinquelle als touristisches Ziel ist für die ein tolles Ziel", sagt er.

Doch noch ist es ruhig in Sedrun. Übertragungswagen von TV-Sendern warten bereit. Unweit der Baustelle arbeitet Hendryk Pio wie sonst auch im Kiefernwald. Der 42-jährige Forstwart zersägt Holzstämme zu Feuerholz. Laut kreischt die Motorsäge und übertönt sogar den Gesteinsbrecher der Tunnelbauer. Dann setzt er sie ab und schiebt die Schutzbrille hoch. Was er über die Tunnelbaustelle denkt? "Schlussendlich", sagt er, werde Sedrun nach 2017 in die Vor-Tunnelzeit zurückfallen, trotz Rheinquelle. Von den schnellen Zügen dort unten werde man hier oben nichts bemerken. Doch Protest gegen ein so großes Bauwerk wie es in Deutschland derzeit immer wieder gibt - nein, das hat es und wird es hier nicht geben, sagt der Forstwart "Wir sind doch stolz, dass die Schweiz dieses Bauwerk geschafft hat - das ist Weltrekord", sagt er, lächelt und wirft die Motorsäge wieder an.