Kino, Bücher, sogar Zeitungen setzen vermehrt auf den dreidimensionalen Effekt. Dabei ist die Technik nicht neu - doch um vieles ausgereifter.

Einmal tief Luft geholt und dann hört man: "Also, das mit dem 3-D, das funktioniert so ..." Endlich gibt es ein weiteres Thema, um die Wartezeit bis zum Filmstart zu verkürzen. Statt über Popcornmengen, die Qualität der zu den Maischips gereichten Soßen und die Länge der Werbespots zu sinnieren, brilliert der technikbegeisterte Cineast neuerdings mit dreidimensionalem Fachwissen. Und kann sich angesichts des ob so viel Expertise beeindruckten Gesichts im Nachbarsitz wie der wahre Star des Blockbusters fühlen, der gleich über die Leinwand flimmern wird.

3-D begegnet einem gerade überall und soll vor allem der Rettungsanker der großen Kinobetreiber werden. Und bislang scheint sich die dritte Dimension tatsächlich positiv auf die Umsatzzahlen von Lichtspielhäusern und Filmproduzenten auszuwirken. Mit einem einzelnen Film schaffte es Regisseur James Cameron, den Trend zur räumlichen Tiefe neu zu beleben. "Avatar" ist eine einfach gestrickte Geschichte um schlumpffarbene Außerirdische und böse Menschen. Der Film hat bislang 2,77 Milliarden Dollar eingespielt, den bisherigen Rekordhalter "Titanic", auch von Cameron, nach nur wenigen Monaten übertroffen.

2 770 000 000 Dollar ist beeindruckend viel Geld. Warum setzen sich tagtäglich Tausende Kinogänger eine Brille auf die Nase, die den gesamten Saal nach einer Zusammenkunft von Blues-Brothers-Imitatoren aussehen lässt? Weshalb erlebt eine Technik, mit der bereits vor Einführung des Tonfilms experimentiert wurde, jetzt ihren Durchbruch, warum erscheint die "Bild am Sonntag" in 3-D, und warum entstauben Verlage alte Stereofotografien, um sie in Bildbänden wie "Hamburg in 3-D" neu zu präsentieren?

Der Run auf die Kinokassen hat auf die klassischen Printmedien abgefärbt. Die alten Fotos lassen einen Blick auf das Hamburg des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu, zeigen in Moment- und Stimmungsaufnahmen ein lebendiges Bild der Stadt. Das durch die räumliche Tiefe noch verstärkt wird. Mit der Farbfilterbrille auf der Nase schaut man auf die Alsterarkaden, Fleete und Statuen Hamburgs, kann sich dank 3-D ein wenig besser vorstellen, wie es damals war. Auch wenn die Technik altbacken anmutet im Vergleich zur Phalanx an Unterhaltungselektronik, die in vielen Haushalten zur Hauptunterhaltungsquelle avanciert ist. Was im Buch ein Retro-Gefühl bedient, soll im Kino die Zukunft weisen.

Denn die Situation vor "Avatar" war für die Kinos schwierig. In immer mehr Wohnzimmern stehen inzwischen Fernseher, deren Bildschirmdiagonale an die Ausmaße von Panoramafenstern heranreicht, dröhnen Explosionen in Originallautstärke. Das Kino in den eigenen vier Wänden ist zur bedrohlichen Realität für die Branche geworden.

Die grassierende digitale Piraterie ist das zweite große Problem der Filmindustrie. Lassen sich mit den High-End-Freunden zumindest noch Umsätze im DVD- und Blu-ray-Markt generieren, fallen selbst diese durch die selbst gemachten Kopien weg. Gerade die unter 20-Jährigen, die einen Gutteil des Kinopublikums stellen, nutzen alle, wenn auch verbotenen Annehmlichkeiten, die ihnen das Internet bietet. Dazu gehören auch Filme, die in Deutschland noch gar nicht angelaufen sind.

Um sie (und alle anderen) nicht endgültig zu verlieren, empfahl Frank Mackenroth, Medienexperte der Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers, bereits im Frühjahr 2009 in einem Artikel der "WirtschaftsWoche": "Die Häuser müssen von der Abspielstätte zum Event werden." Ein weiterer Berater ging an gleicher Stelle noch weiter. Klaus Goldhammer forderte von der Branche, "sich neu zu erfinden", das sei der einzige Weg, an frühere Erfolge anzuknüpfen. Man besann sich auf den Autoren Arthur C. Clarke, der 1973 feststellte: "Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht mehr zu unterscheiden." Und versuchte, mit dem Versprechen der Magie die Zuschauer zurück in die Kinos zu holen.

Die Situation ähnelte der am Anfang der 50er-Jahre. Damals waren es nicht Filmpiraten und Technikbegeisterte, sondern das Fernsehen, von dem sich die Filmtheater bedroht sahen. Es musste ein Alleinstellungsmerkmal her, das über bloße Leinwandgröße hinaus geht, in beiden Fällen sollte 3-D die Menschen zurück in die Kinos locken. 2009 wie 1952 schaffte es ein einzelner Film, einen Boom auszulösen: Der "Avatar" der 50er-Jahre heißt "Bwana, der Teufel". Ein, wie das Lexikon des internationalen Films lakonisch vermerkt, "primitiver Abenteuerfilm", dem Western, Science-Fiction- und Horrorfilme nachfolgten. Die meisten 3-D-Filme dieser Zeit verband eine mindere filmische Qualität. Die noch nicht ausgereifte Technik, die bei vielen Besuchern für Kopfschmerzen und Übelkeit sorgte, tat ein Übriges, um die Welle schnell wieder zu beenden.

Am Technischen hapert es gegenwärtig nur selten in den sich rapide vermehrenden 3-D-Kinos. Die Multiplex-Unternehmen investieren sechsstellige Summen, um einen einzelnen Saal auf die neue Technik umzurüsten. Um der Nachfrage durch die Besucherströme Herr zu werden, stellen die Filmemacher hektisch von 2-D auf 3-D um. Und wenn sie dabei nicht sorgfältig arbeiten, haben empfindliche Zuschauer das Nachsehen. Und Symptome, die denen der Seekrankheit ähneln. "Man kann einiges falsch machen, denn die technische Umsetzung ist komplex", bestätigt auch Gerhard Lampe, Leiter des Projekts "Stereoskopische Medienproduktion" der Universität Halle. Und fasst ebenso kurz wie prägnant zusammen: "Es gibt Filme, die machen da Mist."

Und für die wird genau der gleiche saftige Aufschlag verlangt wie für Produktionen, bei denen technisch sauber gearbeitet wurde. Bewegt sich der Preis für eine "normale" Kinokarte im Bereich um 8 Euro, zahlt man für den gleichen Film samt Raumeffekt schnell 11 Euro und mehr. Dazu noch die obligatorische Brille für einen weiteren Euro, ein eventueller Überlängenzuschlag, und der Familienausflug gerät zum teuren Vergnügen. Und neu erfunden hat sich bislang noch niemand. Die aktuellen Produktionen setzen auf den Überraschungseffekt, wenn Raumschiffe, Piranhas oder Zombies aus der Leinwand herausgreifen, ansonsten bleibt alles beim Alten. Technikschau, kein erzählerisches Mittel. Die Illusion der Tiefe, schnödes Beiwerk zum altbacken Erzählten?

Nicht ganz, das Potenzial der raumgreifenden Bilder sehen nicht nur die Experten für Krach und Getöse. Die Psychologin Gisela Müller-Plath erforscht die stereoskopischen Filme und sieht Chancen für die alte, neue Technik. Sie vergleicht die räumlichen Bil-der mit der Einführung des Farbfilms: "Die meisten Filme würden auch in Schwarz-Weiß funktionieren, manchmal braucht man aber Farbe." Und genau wie damals mache im Moment die Faszination des Neuen einen Großteil der Attraktivität aus, wie Müller-Plath erläutert. Dazu kommt der Faktor der gesteigerten Immersion, des Versinkens im Film. Wobei die Wissenschaftlerin diesen Faktor nicht überbewerten will: "Man kann sich sehr weit mitreißen lassen, weiß aber trotzdem immer noch, dass man einen Film sieht." Wie viel stärker dieser Effekt beim 3-D-Film ist, gilt es jetzt zu untersuchen, auch Projektleiter Lampe sagt: "Die Erforschung des stereoskopischen Films steht noch am Anfang." Ob es nun beim kurzen Hype bleibt oder sich die räumliche Tiefe zum etablierten Darstellungsmittel entwickeln wird, das kann die Medienforscherin Müller-Plath nicht beantworten. "Da sind die Kreativen gefragt, sie müssen mit dem Raum experimentieren, den die Stereoskopie geöffnet hat."

Wim Wenders ist so ein Künstler. Beim Medienforum Nordrhein-Westfalen sagte der Regisseur: "Im Dokumentarfilm liegen ganz große Möglichkeiten, wie wir sie noch nie gesehen haben. Und auch der herkömmliche Spielfilm, ja selbst ein Kammerspiel kann durch 3-D neue Aspekte ausloten, denn das stereoskope Bild eines Menschen vor der Kamera schafft eine Präsenz, die ist atemberaubend." Was Wenders anders als die anderen macht, zeigt er ab Februar 2011. Dann startet sein Tanzfilm "Pina", eine Hommage für die Choreografin Pina Bausch.

Doch wer wird einen Wenders-3-D-Film zeigen? Bei den Filmfestivals bekommt "Pina" wahrscheinlich noch die große Bühne, doch ist nur schwer vorstellbar, dass Kinobetreiber engagiertem Autorenkino den Vorzug geben, wenn das schnelle Geld lockt, das das Mainstream-Kino bietet. Und die kleinen Filmtheater können sich den immens teuren Umbau nicht leisten.

Der schnöde Mammon könnte also dem akuten 3-D-Fieber ein Ende bereiten. Zwar verzeichneten die deutschen Kinos 2009 ein Umsatzplus von satten 23 Prozent, trotzdem warnt auch der Vorstandsvorsitzende des deutschen Filmproduzenten und -verleihers Constantin, Bernhard Burgener: "2009 war ein Ausnahmejahr."

Gerade wenn sich die Flucht mitten hinein in die fremden Welten auch daheim vollziehen lässt. Denn die Hersteller von Fernsehgeräten haben die Zeichen der Zeit ebenfalls erkannt. Die Modellpalette der 3-D-fähigen Fernseher wächst täglich, in diesem Jahr wurden erste Prototypen vorgestellt, die die wenig geliebte Brille überflüssig machen. Bis diese Technik aber auf den Kinoleinwänden angekommen ist, dürfte es noch eine Weile dauern. Egal, ob mit oder ohne Brille: André de Toth hatte keinen Spaß an den dreidimensionalen Bildern: Der Regisseur des 3-D-Horror-Klassikers "House of Wax" von 1953 konnte nur auf einem Auge sehen.