Der Emnid-Chef sieht einen Meinungsumschwung. 77 Prozent der Deutschen seien dafür, dass jene, die nur vom Staat leben, auch gemeinnützig arbeiten sollen.

Die deutsche Empörungskultur hat wieder ein Opfer gefunden. Nach Sarrazin konzentriert sie sich nun auf Hartz IV: "Verhöhnung der Arbeitslosen", "Abgrund an Zynismus", "Soziale Kälte" sind häufige Reaktionen auf die geplante Fünf-Euro-Erhöhung des Regelsatzes. Doch nach der Integrationsdebatte scheint sich die "Vereinigte Linke" nun in kürzester Zeit ein zweites Mal im öffentlichen Meinungsdschungel zu verrennen: Die Mehrheit der Deutschen will den Hartz-IV-Empfängern noch nicht einmal das "Fünf-Euro-Plus" zugestehen!

Zwar sprechen sich 47 Prozent für eine Erhöhung des Regelsatzes aus. Für 39 Prozent sollte er allerdings konstant bleiben, für jeden Zehnten sogar sinken. Macht 49 Prozent! Weil Arbeiten sich offensichtlich in den unteren Lohngruppen nicht mehr lohnt.

In Zeiten einer stagnierenden Lohnentwicklung sehen die Deutschen in der augenblicklichen Höhe der Sozialleistungen nur noch recht dürftige Arbeitsanreize.

Politik soll nicht den Mangel verteilen, in Zeiten gähnender Kassenleere nicht "pauschal mal eben was draufsatteln". Politik soll Anreize schaffen, Leistung stimulieren, Eigenaktivitäten unterstützen. Doch nur 41 Prozent ist die Höhe von Hartz plus Zusatzleistungen im Vergleich zur Tiefe der unteren Lohngruppen Anreiz genug. Für eine Mehrheit (53 Prozent), auch bei den Oppositionsanhängern, demotiviert die Staatsstütze. Wer also Hartz IV erhöht, liefert Anreiz fürs Nichtstun.

Weil immer mehr Deutsche die Bezüge der Arbeitslosen mit denen der Arbeitenden vergleichen, unterliegt auch die Einstellung zu Hartz IV einem Mentalitätswandel: Noch vor fünf Jahren waren die Wachstumsapologeten in der Mehrzahl. Konjunkturkrisen waren nur kleine Dellen im Prozess stetigen Wachstums. Inzwischen glauben 80 Prozent nicht mehr an permanentes, sondern an das Ende des Wachstums, also daran, dass sich Staat und Privatleute in Zukunft weniger leisten können. Zum ersten Mal glauben die Deutschen mehrheitlich, dass "unsere Kinder es einmal finanziell schlechter haben werden als ihre Eltern".

Als Folge hat es einen Paradigmenwechsel gegeben: Keine Leistung des Staates mehr ohne Gegenleistung, ist nun die Devise.

Inzwischen sind 77 Prozent der Deutschen dafür, Hartz-IV-Empfänger zu gemeinnütziger Arbeit heranzuziehen. 2006 war das weniger als jeder Zweite. Wie stark heute die Angst vor Müßiggang auf Kosten des Staates geworden ist, zeigt auch, dass dieser Einstellungswandel ausnahmslos gilt: Selbst die Wähler der Linkspartei liegen auf Gegenkurs, und unter den Genossenanhängern stimmen sogar 78 Prozent für Tätigkeitspflicht.

So wird als Grundmaxime das "Fördern und Fordern" nun durch "Fordern und Fördern" abgelöst. Watte würgt die Arbeitsmotivation. Eigenverantwortung treibt sie an. Also hat Berlin im Sinne der Mehrheit der Bürger dem Druck nach einer politischen Wohlfühlerhöhung standgehalten. Die Bundesregierung hat den Anreiz, Hartz-IV-Empfänger zu bleiben, eher geschwächt als gestärkt. Das war eine Entscheidung auch für gering verdienende Helfer, Pfleger, Pförtner und Friseusen.

Auch die zweite Forderung der Deutschen haben die Hartz-IV-Beschlüsse bestanden: Kinderwohl vor Elternwohl. Auch bei der geforderten stärkeren Berücksichtigung des Bildungsbedarfs weiß sie diesmal sogar eine klare Mehrheit der Deutschen hinter sich, weil die Kosten der Kinder nicht als Bruchteil des Erwachsenensatzes gesehen werden. 68 Prozent bevorzugen Gutscheine und Chipkarten für bedürftige Kinder. Am stärksten sogar die Anhänger der Grünen. Selbst Zweidrittel der Linken stimmen für Gutschein und damit gegen Bares.

Ursula von der Leyen hat vieles richtig, eines aber falsch gemacht: Erneut hat sich die Bundesregierung die Deutungshoheit aus der Hand nehmen lassen. Die Erhöhung um eher provokante fünf Euro ist zwar mehr als der letzte Rentenzuwachs. Trotzdem riecht das Monatsmehr um eine Schachtel Zigaretten oder einen "Big Mac SuperSize" nach Trickserei zulasten der Armen. Mit Blick auf Bangster und Griechenland kann die Opposition vorzüglich ihren einzigen Argumentationstrumpf ausspielen: "Geld ist genug da, es muss nur besser verteilt werden!" Genau der wird mit dem peinlichen Fünf-Euro-Brosamen bestens bedient.

Im Bildungspaket, der Trumpfkarte im Entwurf der Bundesregierung, hätten die Hartz-IV-Beschlüsse noch weiter gehen müssen. Und zwar auf Kosten des Fünf-Euro-Minus-Plus!