Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall.

Es wirkt so selbstverständlich. So zielstrebig. Wie dieser Mann auf den Platz des Verteidigers zusteuert, in seinem tadellosen dreiteiligen Anzug, mit seiner modischen Brille und dem schicken kleinen Rollkoffer für die Akten, würden ihm wohl die meisten den Anwalt abkaufen. Doch es ist keine böse Absicht, keine Hochstapelei. Nur ein minimaler Fehltritt. Ein kleiner Fauxpas auf absolutem Neuland. Denn tatsächlich ist Leonard M. der Angeklagte - und diese Rolle für ihn eine Premiere.

Der 48-Jährige steht im Verdacht, ein Betrüger zu sein. Sich tatsächlich schon einmal als Anwalt ausgegeben zu haben, absichtlich, um honorig und vor allem liquide genug zu wirken, um eine teure Arztrechnung begleichen zu können. So soll Leonard M. im Mai vergangenen Jahres bei einem Zahnarzt mit feiner Adresse in der Innenstadt behauptet haben, er sei Rechtsanwalt und Privatpatient. Und dann eine fast 4400 Euro teure Zahnbehandlung in Anspruch genommen haben, obwohl er wusste, dass er sie nicht würde bezahlen können, heißt es in der Anklage im Prozess vor dem Amtsgericht. Schon drei Jahre zuvor, lautet ein weiterer Vorwurf, habe der Hamburger in einer Klinik mit einer ähnlichen Masche eine Bauchoperation im Wert von 592 Euro erschlichen. Und das, obwohl er eine Woche später einen Antrag auf Privatinsolvenz gestellt habe.

"Ich war damals, als die Bauchoperation vorgenommen wurde, nicht in Insolvenz", hebt Leonard M. jetzt zu seiner glühenden Verteidigungsrede an. "Und ich war Privatpatient, das ist Fakt", beteuert er. Der Eingriff sei schlicht eine "Fehloperation" gewesen. "Mein Bauch war danach schlimmer als vorher", behauptet er und weist auf seine Leibesmitte. "Deshalb sagte ich noch zu dem Arzt, dass ich nicht bezahle, wenn es hinterher schlechter ist."

Aus demselben Grund habe er auch die Zahnarztrechnung nicht beglichen. Leonard M. zeigt auf seinen Mund, seine Finger tasten von außen den Kiefer ab, als wolle er sich vergewissern, dass die Zähne noch da sind. "Unten die Löcher", knurrt er, "hat er alle gelassen! Aber die anderen Zähne hat er so geschliffen, dass sie dauernd abgebrochen sind. Meine gesunden Zähne", echauffiert der 48-Jährige sich. "Nicht nur, dass es erschreckend aussah", klagt er. "Da waren auch die Schmerzen." Die hätten ihn so gequält, dass er weder habe essen noch trinken können. Und er sei sehr wohl krankenversichert gewesen, macht er geltend. Doch er habe nicht gezahlt, ergänzt er kämpferisch, "weil ich meine Rechte habe".

Der Amtsrichter fühlt der Sache auf den Zahn: "Sie machen geltend, dass beides Fehloperationen waren, Bauch verpfuscht, Zähne verpfuscht", fasst er die Argumentation des Angeklagten zusammen. Doch in den Akten finde er dazu nichts. Leonard M.s Verteidiger greift ein. Ein Zivilverfahren wegen Schlechtbehandlung laufe, teilt er mit. Zudem habe sein Mandant sich das Gebiss gerade aufwendig sanieren lassen, ergänzt der Anwalt und nennt den Namen der Medizinerin, die diese Behandlung vorgenommen habe. Der Amtsrichter ist erfreut: "Die kenne ich sogar." Da sei es ja mit erfreulich wenig Aufwand verbunden, die Angaben zu überprüfen.

"Bitte, ich möchte Ihnen hier nichts vorheulen und auch nicht Ihre kostbare Zeit stehlen", setzt der Angeklagte nochmals an die Adresse von Richter und Staatsanwalt an. "Doch schauen Sie: hier", fährt er fort und beginnt, auf einem Zettel einen Zahn zu skizzieren, in der Hoffnung, sein Leid noch besser zu veranschaulichen. Die notwendige Sanierung seines Gebisses belaste ihn finanziell enorm, erzählt der Angeklagte. So ganz verzweifelt könne die pekuniäre Situation des Angeklagten jedenfalls nicht sein, überlegt der Amtsrichter und erinnert Leonard M. daran, dass er seinerzeit um eine Verlegung des Prozesstermins gebeten hatte, um einen Golfurlaub antreten zu können. "Und dieser Urlaub von Ihnen war gelinde gesagt alles andere als billig", ergänzt er trocken. "Geld muss also doch irgendwo vorhanden sein."

Der Richter hat genug gehört. Fürs Erste zumindest. Weitere Ermittlungen seien erforderlich, mahnt er und entscheidet, das Verfahren auszusetzen, da der "Versicherungsschutz nicht ganz klar ist" und das Verfahren von der Staatsanwaltschaft "nicht wirklich ausermittelt" sei. Auch die Unterlagen über die Zivilklagen wegen der angeblichen Fehlbehandlung sind bislang von der Verteidigung nicht vollständig zu den Akten gereicht worden. "Der Fall wurde bisher nicht gerade liebevoll behandelt", veranschaulicht der Richter seine Einschätzung. Zu einem späteren Termin müsse der Prozess neu aufgerollt werden. Leonard M. packt seinen Aktenkoffer und nickt. Dann lächelt er, ein schmales Anheben der Mundwinkel nur, dazu ein Blick, der von Kampfeslust zeugt. Der Mann ist bereit, Zähne zu zeigen.