Sie machen wieder rüber. Rund die Hälfte der Ostdeutschen, die im Westen leben, wollen auch nach 20 Jahren Einheit zurück in die Heimat. Sie haben ihre Gründe

Eigentlich bräuchte es an diesem Abend die Postkarten nicht, auf denen ein Strandkorb abgebildet ist und das Wort "Heimweh". Auch die Dia-Show, in der Bilder von Seen, von der Altstadt Wismars und der Ostsee im Wechsel zu sehen sind, hätte sich der Veranstalter dieses "MV-Abends", die vom Land Mecklenburg-Vorpommern finanzierte Rückkehragentur "MV4you", sparen können. Nein, das alles muss man den Leuten, die an diesem Herbstabend ins Foyer des Museums für Arbeit im Hamburger Stadtteil Barmbek gekommen sind, nicht zeigen, denn Heimweh haben sie ohnehin.

Warum wollen so viele Menschen zurück (s. Kasten), gibt es 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch so große Unterschiede zwischen Ost und West. Ja, hält man es zusammen nicht aus?

An der Eingangstür zum MV-Abend hängt die Attrappe eines Straßenschildes, wie es an Ortsausgängen steht, Ende Hamburg, Anfang Mecklenburg-Vorpommern. "Da fühle ich mich gleich wie zu Hause", sagt eine Frau. Ein Banner ist zu sehen mit der Aufschrift "Mecklenburg-Vorpommern tut gut", ein Büffet mit "Grabower Küsschen", "Elmenhorster Saft" und "Stralsunder Pils" aufgebaut. Doch die Besucher gehen direkt auf die Stellwände mit den Stellenanzeigen zu.

Ein Paar Mitte 40 steht vor einer Stellwand, er reißt sich ein Gesuch für einen Maschinenbau-Ingenieur ab. Der Mann arbeitet bei der Hamburger Polizei, seine Frau ist Sachbearbeiterin in der öffentlichen Verwaltung. Ihren Namen möchten sie nicht öffentlich machen, weil sie nicht wollen, dass ihre Arbeitgeber etwas von ihrer Suche erfahren, bevor wenigstens einer von beiden eine neue Stelle hat. Seit 1991 sind sie in Westdeutschland, 1994 wollten sie zurück nach Mecklenburg. Jedes Wochenende pendelten sie. "Unsere Unterkunft in Hamburg war für uns nur die Dienstwohnung." Erst in den letzten Jahren, in denen ihr Sohn, 14, am Wochenende Wettkämpfe mit dem Sportverein hat, fahren sie seltener in die alte Heimat. "Richtig angekommen sind wir in Hamburg nie", sagt sie. Die beiden vermissen die Weite, die Ruhe Mecklenburgs - und die Mentalität der Menschen. "Bei uns geht man offener und ehrlicher miteinander um, der Zusammenhalt ist stärker", sagt sie. "Im Westen ist da immer dieses Konkurrenzdenken, diese Ellbogenmentalität zwischen den Kollegen."

Ihr Mann schaut sich weiter an den Stellwänden um, die Stellenanzeige einer Werft. "Ich kenne die Situation in der Branche, alles befristete Jobs", er schüttelt den Kopf. "Eine schlechter bezahlte Stelle als in Hamburg würde ich annehmen, aber nur, wenn sie sicher ist." Seine Frau hat andere Bedenken: "Wir sind auch zerrissen, sollen wir zurück in den Osten gehen und den Leuten da noch die letzten Jobs wegnehmen? Das wäre doch unsolidarisch ..."

500 Kilometer weiter südlich, in Lich, einem 13 000-Einwohner-Städtchen in Hessen, stellt sich für Angelika und Jochen Schneider die Frage nach dem Job im Osten nicht mehr. Ihr Berufsleben liegt hinter ihnen. Er, 68, sitzt neben seiner Frau, 62, auf dem Sofa, dahinter, daneben, davor stapeln sich Umzugskartons. Die Wand des Wohnzimmers ist altrosa gestrichen, der Blick geht auf eine Terrasse mit gemauerter Feuerstelle, einem Teich und gepflegten Blumenbeeten.

1990 sind die Schneiders aus Weißwasser in der Lausitz nach Hessen gekommen, kurze Zeit später haben sie dieses Haus gekauft und renoviert. Es wirkt, als hätten sie das erreicht, was die meisten Familien anstreben. Aber jetzt im Jahr 2010 haben sie beschlossen zu gehen, Westdeutschland zu verlassen und nach Köpenick in den Osten Berlins zu ziehen. Nein, auf keinen Fall in den Westteil, da wäre es doch genau wie hier, sagt Jochen Schneider.

Nach Lich kamen die Schneiders wegen seiner Cousine, die im benachbarten Gießen wohnt. Sie schwärmte ihnen von den Möglichkeiten vor, die sie haben würden, suchte ihnen eine Wohnung, vermittelte Kontakte zu möglichen Arbeitgebern. Der Westen war das gelobte Land. "Hier war das Gras grüner", sagte Jochen Schneider. "Wirklich, in der DDR lag über allem ein Grauschleier." Seine Frau sagt: "Meinen ersten Besuch in Gießen habe ich kaum verkraftet, alles war so bunt, so gepflegt, es gab alle Waren." Gießen gilt als eine der hässlichsten Städte in Deutschland.

Dass im Westen nicht immer alles schön und bunt ist, erlebte Jochen Schneider schnell. Vier Monate, nachdem er seine erste Stelle angetreten hatte, war er das erste Mal arbeitslos. "Wir haben die Schattenseiten des Kapitalismus schnell kennengelernt", sagt Angelika Schneider, die Begriffe aus der Sprache des Klassenkampfes benutzen sie bis heute. Der Nachbar klagte wegen Ruhestörung, weil die Schneiders mit zwei Gästen ihre Silberhochzeit feierten, beschimpfte den Sohn im Treppenhaus, aus Missgunst meinen sie. Das alles war neu für sie. Die Arbeitsstelle, die Hausgemeinschaft, in der DDR waren das Orte der Geborgenheit und Freundschaft gewesen.

Jochen Schneider fand wieder einen Job. "Nach der Arbeit war es kaum möglich, etwas gemeinsam zu machen", sagt er. Die Arbeit als sozialer Mittelpunkt des Lebens, das funktionierte nicht im Westen. Angelika Schneider versuchte es am Anfang im Sportverein, aber nach dem Training seien die anderen Frauen etwas trinken gegangen und hätten sie nicht mitgenommen. Das Vereinswesen blieb den Schneiders fremd. In einer Sauna-Gruppe waren sie, hauptsächlich mit Lehrern. "Wir kamen aus Texas von unserer Tochter, fingen kurz an zu erzählen, was wir erlebt haben - aber nach zwei Minuten erzählten die nur noch von ihren tollen Fernreisen", erzählt Angelika Schneider. "So aufdrängen muss ich mich wirklich nicht." Ihr Mann sieht ratlos aus. "Die haben uns einfach nie zugehört."

Der Soziologe Gert Pickel, Professor an der Uni Leipzig, untersucht, warum Ostdeutsche in ihre Heimat zurückkehren. "Erstaunlicherweise wollen auch die meisten jungen Menschen zurück, die in den Westen gegangen sind", sagt er. Er sieht Unterschiede in der Mentalität, weil Ostdeutsche und Westdeutsche unterschiedlich geprägt sind. "In der DDR hatten Solidarität und Zusammenhalt einen großen Stellenwert", sagt Pickel. "Im Westen treffen Menschen, die so geprägt wurden, auf Menschen, die sehr individualistisch sind." Dieser Gegensatz sei ein Baustein der ostdeutschen Identität. Die Solidarität werde betont, weil es in der eigenen Biografie wenig gebe, auf das man nach gesamtdeutschen Maßstäben stolz sein könne.

Die ostdeutsche Identität sei vor allem auch durch Vergleiche mit dem Westen entstanden. Unter anderem durch die lange Zeit geringeren Löhne, die Entwertung von Berufsabschlüssen aus der DDR und die bis heute höhere Arbeitslosigkeit im Osten fühlten sich viele Menschen benachteiligt. "Und die Kinder übernehmen das von ihren Eltern", sagt Pickel. "Sie haben ja miterlebt, dass der Lebenslauf der Eltern entwertet wurde." Menschen, die aus dem Osten in den Westen umzögen, behielten ihre Einstellungen. Viele fühlten sich dort fremd, weil es kein Verständnis für Ostbiografien gebe. "Mehr als 25 Prozent der Westdeutschen waren bis heute noch nie in den neuen Bundesländern", sagt Pickel. "Die Ostdeutschen fühlen sich nicht geachtet. Auch deshalb wollen viele zurück in ein Umfeld, in dem die Werte ähnlich sind", sagt Pickel.

Zurück beim Rückkehrabend in Hamburg, das Duo "Schmalz und Marmelade", Wandergitarre und Gesang, beginnt zu spielen, es wirkt befremdlich in der kalten Atmosphäre des Foyers. Es ist Musik zum Zuhören, aber nicht die Stimmung dazu. Einige Besucher sprechen mit einem Herrn eines Chemie-Unternehmens. Die Musiker, sie kommen aus Wismar, spielen ein Lied mit dem Refrain "Stell dich nicht hinten an, wenn vorne noch ein Platz frei ist" und bitten die Zuschauer mitzusingen. Als ob man den Menschen, die hier sitzen, Ellbogenmentalität beibringen müsste, viele wollen ja gerade dorthin, wo sie glauben, das es die nicht gebe. Es stimmt niemand ein.

Alleine an einem Tisch sitzt eine Frau, 30 Jahre alt, lange blonde Haare, rosige Gesichtsfarbe. Ihr Mann passt zu Hause auf die anderthalbjährige Tochter auf. Auch sie möchte ihren Namen nicht nennen, sie arbeite als Anwältin in einem steifen Unternehmen, wo sie niemandem sage, dass sie am liebsten weg wolle aus Hamburg. Warum will sie zurück? "Die Oberflächlichkeit der Leute im Westen nervt mich", sagt sie. "Sie reden viel und sagen nichts - und denken so elitär." Akademiker umgäben sich nur mit Akademikern. Sie habe in ihrer Heimat genauso mit Handwerkern, Verkäuferinnen und Hartz-IV-Empfängern zu tun. "Dieser Ost-West-Gegensatz in der Mentalität wird sich nicht so schnell auflösen", sagt sie. Sie kenne kein Paar, aus einem Westdeutschen und einem Ostdeutschen, so was funktioniere nicht.

An der Stellwand, zwei Männer Anfang 30, einer in Anzug und Krawatte, einer in Jeans und T-Shirt. "Alles Akquise und Verkauf, das ist alles nichts für mich ...", murmelt der Anzugträger. Sein Gesicht ist gerötet, er wirkt angespannt, so als ob er Angst habe, hier beobachtet zu werden. "Die Kontakte bei der Arbeit sind businessmäßig", sagt er. "Man muss aufpassen, was man preisgibt von sich."

Er schaut sich um. "Mist, die Mädels sind schon weg", sagt er zu seinem Kumpel. Seit zwei Wochen ist er wieder Single, seine letzte Freundin stammte aus Mecklenburg und lebte auch dort. Bis auf eine Ausnahme habe er immer Fernbeziehungen mit Frauen aus seiner Heimat gehabt. "Die Mädels sind anders als die von hier, die verstehen einen", sagt er. Einmal sei er kurz mit einem Mädchen aus Hamburg zusammen gewesen. "Aber sie konnte sich nicht auf meine Familie einlassen", sagt er. "Und für mich ist es eben das Schönste, am Wochenende zu Kaffee und Kuchen bei meiner Oma zu sitzen."

Jetzt trägt das Gesangsduo Gedichte vor. Die Besucher achten nicht darauf, unterhalten sich mit den Unternehmensvertretern, es ist unruhig, Telefonnummern werden ausgetauscht. Wenn alles für einen Job im Osten getan ist, gehen die meisten. Zwei Männer, die nichts gefunden haben, trinken gemeinsam "Stralsunder Pils" .