Der Experte kritisiert, dass bei Volksabstimmungen auf Bezirksebene 1000 Unterschriften reichen, um die Verwaltung zum Stillstand zu bringen.

Hamburg hat schon wieder eine Volksinitiative: Sie fordert die Abschaffung der Kita-Gebühren! Der Bau eines vergleichsweise kleinen Hauses im Bebauungsplan "Hoheluft" in Eimsbüttel wurde kürzlich durch Bürgerentscheid gestoppt. Die direkte Demokratie boomt in Hamburg und anderswo. Oder ist sie schon auf Abwegen?

Es gibt eine neue Sehnsucht der Bürger nach Beteiligung, nach Protest, Opposition gegen "die da oben": Stuttgart 21, Gorleben, Kernkraft. Die Lust des Souveräns an der direkten Demokratie ist auch eine Kritik an der repräsentativen, parlamentarischen.

Die direkte Demokratie ist keine bessere Form der Demokratie, nicht die "eigentliche" Demokratie. Politische Entscheidungen unserer langfristig legitimierten Abgeordneten stehen gleichberechtigt neben spontanen Volksentscheiden über eine Sachfrage. Die direkte Demokratie hat nach dem Ruf "Wir sind das Volk" in allen Ländern (noch nicht im Bund) Fuß gefasst und sogleich volle Fahrt aufgenommen, ganz besonders in Hamburg.

Volksentscheide sind ein wünschenswertes Korrektiv des Parlamentarismus. Wenn sie spektakulär erfolgreich sind, wirken sie ansteckend, wecken den Appetit auf mehr. Das kann die Politik gehörig durchschütteln.

Volksentscheide in ganz Hamburg und Bürgerentscheide auf Bezirksebene lassen die Schwachpunkte der parlamentarischen Demokratie oft in grellem Licht erscheinen. Komplizierte, durch Kompromisse geprägte Entscheidungen über Fragen der Gesamtpolitik hier - dort schnittige Einzelfragen, die sich im Schwarz-Weiß-Raster entscheiden lassen. Die Wahl von Personen alle vier Jahre hier - dort Abstimmung über Sachthemen. Kandidaten, die sich um ein Amt bewerben (häufig nur das!) hier - Bürger, denen es um ein Problem geht, nicht um ein Amt, dort. Politikprofis hier, die nie einen Beruf ausgeübt haben - ehrenamtliche Bürger, Laien also, dort.

Hier eine Legitimation durch die Parteikarriere, vom Jugendverband der Partei über den Ortsvorsitz, zum Parlamentsmandat und zum Ministeramt - dort eine Legitimation durch die Basis engagierter Bürger. Hier ein undurchsichtiges Auswahlverfahren durch Parteizirkel - dort transparente Vorbereitung der Attacke, spontane Zustimmung und Hilfs- wie Einsatzbereitschaft vieler.

So weit - so gut: Die direkte Demokratie hat aber - gerade in Hamburg - ernste Mängel. Schulreform und Kita-Gebühren sind Großthemen, die (fast) alle Bürger bewegen. Viele andere Sachfragen ("Hoheluft" an der Isebek oder ein Einkaufszentrum am Bahnhof Bergedorf) sind sehr kleinteilig. Triebfeder ist hier oft der allgemeine menschliche Egoismus getreu dem Motto: "Heiliger Sankt Florian! Verschon mein Haus, zünd andre an!"

Hamburg ist - anders als die Flächenländer - ein Topf, in dem sich leicht Überdruck entwickelt. Mehrheiten lassen sich leicht finden. Die direkte Demokratie ist ein Instrument organisierter Minderheiten. Das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung ist es, wenn die finanzielle Unterstützung aus interessierten Quellen kommt. Auch müssen die Beteiligungsquoren überprüft werden. Wenn 280 000 Bürger der Schulprotestaktion "Wir wollen lernen" zum Erfolg verhelfen, ist das repräsentativ. Wenn - wie in Bergedorf - bereits 1000 Unterschriften ausreichen, um die Verwaltung erst einmal zum Stillstand zu bringen, ist das inakzeptabel.

Leider trägt die Vielzahl von Entscheidungen des Volkes in Hamburg dazu bei, den Graben zwischen Bürgern und Bürgerschafts-Senats-"Establishment" zu vertiefen. Das kann nicht gut gehen. Beide Seiten der Medaille - parlamentarische und direkte Demokratie - vertreten doch dasselbe Volk. Die sinnvolle Kooperation beider Seiten müssen wir Hamburger offenbar erst noch einüben!