Wird Hamburg durch direkte Demokratie unregierbar? Diese Frage bewegt die politischen Akteure dieser Stadt. Sie kann aber auch anders gestellt werden. Ist die Stadt bereits unregierbar? Vor allem ihre Verschuldung rechtfertigt diese Frage.

Noch schwerer wiegt, dass kaum jemand noch Vertrauen in die Versprechungen der etablierten Politik hat, den Schuldenberg abzubauen. Vor diesem Hintergrund werden immer teurer werdende Großprojekte und politische Leuchttürme zunehmend kritisch gesehen. Wenn dann noch die Kita-Gebühren erhöht werden, sollte sich niemand über den Aufstand wundern.

Das Vertrauen ist verspielt. Das gilt nicht nur für Hamburg. Und das bedenklich abnehmende Ansehen der Parteien stellt inzwischen eine ernsthafte Gefahr für die parlamentarische Demokratie dar. Auch deswegen wird der Ruf nach bundesweiten Volksentscheiden immer lauter.

In Hamburg hat besonders der Volksentscheid über die Schulreform die Vertrauenskrise offengelegt. Aber es sind nicht nur die unterlegenen Parteien, die nun an der direkten Demokratie zweifeln oder zum Teil verzweifeln, auch viele andere Befürworter der Reform, die sich für direkte Demokratie eingesetzt haben, sind ins Grübeln gekommen.

Da hilft nur eine grundsätzliche Debatte über die Entwicklung und die Regeln unserer Demokratie. Hamburg hat hierbei eine bundesweite Vorreiterrolle übernommen. Das gilt nicht nur für die direkte Demokratie, sondern auch für Wahlrechtsreformen.

Besonders uns in Deutschland fällt es schwer zu akzeptieren, dass der wählende, abstimmende Mensch mit all seinen Fehlern und seinem begrenzten Wissen in einer Demokratie per Definition uneingeschränkt entscheidungsfähig ist. Dieses positive, extrem idealisierende Menschenbild ist aber die Grundvereinbarung in einer demokratischen Gesellschaft. Wer diese eigentlich unrealistische Vereinbarung infrage stellt, stellt Demokratie infrage. Das Erstaunlichste an der Demokratie ist, dass diese Basis trägt, sobald sie akzeptiert wird. Sonst ist Demokratie permanent gefährdet. Der Untergang der Weimarer Republik ist dafür ein trauriges Beispiel. Auf besondere Weise begleitet dieser Untergang mit seinen verheerenden Folgen die Entstehung und Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie bis heute.

Es ist dieser "Schatten von Weimar", der die Entwicklung unserer vergleichsweise jungen Demokratie prägt: Dem Volk ist doch nicht so recht zu trauen, schwingt da mit. Es sei zu leicht verführbar. Über so wichtige Dinge wie eine Verfassungsänderung, die Erweiterung der EU oder die Einführung des Euro dürfe man deshalb nicht das Volk, sondern nur die Parlamente entscheiden lassen.

Was für ein grandioses Missverständnis von Demokratie. Dahinter steckt unausgesprochen die merkwürdige Vorstellung, dass die Volksvertreter und die sie tragenden Parteien nicht nur den Volkswillen repräsentieren, nein, sie veredeln und sichern ihn durch angeblich tiefere Einsichten und bewahren das Volk davor, sich durch wichtige direkte Entscheidungen selbst zu schaden.

Volksabstimmungsverfahren sind zwar wesentlich umständlicher, können aber dennoch zu schnelleren Entscheidungen führen. Das gilt vor allem für umstrittene Grundsatzfragen.

Die Einsicht "Wenn wir nicht handeln, dann nimmt das Volk das selbst in die Hand" beschleunigt und beeinflusst die parlamentarischen Entscheidungen in Sinne des Volkes. Damit ist auch der Aspekt der Machtbalance beschrieben. Wenn das Volk direkt und wirkungsvoll eingreifen kann, mag das zwar immer noch als lästig betrachtet werden, aber dem Volk wird mit mehr Respekt begegnet. Und das kann einer Demokratie nur guttun, das schafft politische Bodenhaftung.

Es gibt wenige Sätze in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die so viel Aufbruchstimmung vermittelt haben wie Willy Brandts Satz aus dem Jahre 1969: "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Was für eine denkwürdige Parole! Heißt das auch: Demokratie ist ein Wagnis? Was sind dann andere Gesellschaftsformen, wenn Demokratie ein Wagnis ist?

Das Risiko sind wir, wenn wir uns und unseren Entscheidungen nicht trauen, sei es beim Wählen oder Abstimmen, das Risiko sind Eliten, die sich elitär verhalten und dem Volk keine vernünftigen Entscheidungen zutrauen. Wenn wir dem Volk, also uns allen, vertrauen, dann ist die Demokratie so wenig ein Wagnis wie das Leben.

Dr. Manfred Brandt, 65, Agrarwissenschaftler und Mitglied im Hamburger Vorstand von Mehr Demokratie