Montags fährt Sebastian Iwanowski zur Arbeit nach Hamburg. Am Freitag sitzt er im Zug nach Berlin. Das Leben eines Wochenend-Pendlers.

Hamburg. Ein Doppelleben ist es nicht. Er führe eher ein doppeltes Leben, sagt Sebastian Iwanowski, während er an Gleis 9 des Bahnhofs Altona auf den einfahrenden Zug wartet. Montags bis freitags spielt sein Leben in einem 15 Quadratmeter kleinen Apartment, im zwölften Stock eines Hochhauses mit Blick auf den Campus der Fachhochschule Wedel. Die Tage verbringt Sebastian Iwanowski, Professor für Informatik, in den Hörsälen, die Nächte in dieser winzigen "Schlafkoje", über die er sagt, dass man in ihr quasi gleichzeitig duschen und kochen könne. Seine Studenten sagen über diese Professorenbude, dass sie darin "echt nicht leben wollten".

Das tue er doch auch nicht, antwortet Sebastian Iwanowski dann. Er lebe von Freitagabend bis Montagmorgen, manchmal sogar bis Dienstagmorgen. In dem großen, frei stehenden Einfamilienhaus im brandenburgischen Glienicke, im reichen Speckgürtel des armen Berlin. 1995 hatte er mit Ehefrau Klaudia das 850 Quadratmeter große Grundstück gekauft, darauf ein Haus gebaut und einen schmucken Garten angelegt. Er hat sich damit einen Traum, der längst nicht nur ein amerikanischer ist, verwirklicht. In Glienicke liegt das Zuhause der Familie Iwanowski, ein Hort der Geborgenheit für die vier Kinder, die von dort nicht weg wollen.

Weg aus der Hauptstadt, das wollte Sebastian Iwanowski, 48 Jahre alt, gebürtiger Westberliner, studierter Mathematiker und Biologe, ausgebildeter Gymnasiallehrer und ein Forscher, der mit seiner Arbeit über "Suchprobleme auf Graphen" ein exzellentes Diplom erhalten hat, auch nicht. Doch er musste weg. Aus wirtschaftlichen Gründen.

Seit mittlerweile sechs Jahren hat sich das Leben des vierfachen Familienvaters eingependelt, zwischen Berlin und Hamburg, zwischen dem Hauptbahnhof an der Spree und dem Bahnhof Altona, zwischen dem Wohnort in Glienicke und dem Arbeitsplatz in Wedel.

Sebastian Iwanowski ist einer von knapp 30 Millionen Pendlern in Deutschland. Ein moderner Nomade, wie es allein in Hamburg etwa 400 000 gibt. 300 000, die zum Arbeiten in die Hansestadt pendeln, 100 000, die die Stadt der Arbeit wegen täglich verlassen. Sebastian Iwanowski ist einer, der dahin geht, wo die Arbeit ist. Eine Leitfigur unserer Zeit, mobil, ungebunden, leistungsstark. Die meisten Pendler fahren morgens hin, abends wieder zurück. Sebastian Iwanowski gehört zu der Gruppe, deren mobile Mitglieder von der Wissenschaft als "Shuttle" bezeichnet werden: Menschen, die nur am Wochenende zu ihren Familien zurückkehren.

Am 14. März 2003 betonte Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010: "Wir haben erhebliche Anstrengungen unternommen, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren."

Ein knappes Jahr später begann Sebastian Iwanowski, erhebliche Anstrengungen zu unternehmen, um auf diesem flexiblen Arbeitsmarkt zu bestehen. Anfang der Woche fährt er 286 Kilometer mit dem Zug nach Hamburg, am Ende der Woche wieder zurück. Denn Berlin, wo der Mathematiker mit den dunklen Haaren das Canisius-Kolleg besucht, an der Freien Universität studiert und einige Jahre bei Daimler geschafft hat, gilt längst als Hauptstadt der arbeitslosen Akademiker. Zwar sind 25 Prozent der Hauptstädter sehr gut ausgebildet, so viele wie in keinem anderen Bundesland, doch jeder zehnte Hochqualifizierte findet dort keinen Job. Wie Sebastian Iwanowskis Schwester, eine promovierte Physikerin, die binnen fünf Jahren bereits zum zweiten Mal arbeitslos ist. Oder wie ein enger Freund, der in Berlin von Hartz IV lebt und bereits seit Jahren ohne Stelle ist - weil er nicht wegziehen möchte. "Das kann ich nicht nachvollziehen", sagt Sebastian Iwanowski, während er sich noch einen Pappbecher Kaffee kauft. Für die Heimfahrt. "Man muss heutzutage doch flexibel sein."

Als er das Angebot bekam, an der privaten Hochschule Wedel die Leitung einiger Arbeitsgebiete aus dem Fachbereich Informatik zu übernehmen, habe er nicht lange überlegt. "Das ist ein gut bezahlter Job, der mich interessiert. Und in Berlin gibt es so eine private Hochschule nicht, an der die Studierenden überdurchschnittlich motiviert sind", sagt der Akademiker.

Wedel, wo das bitte überhaupt sei, hätten seine Kinder damals wissen wollen. Also unternahm Sebastian Iwanowski mit seiner Familie gleich einen Ausflug in die neue Heimat der Familie. Er hoffte jedenfalls, dass Wedel dazu werden könnte.

"Sebastian, du musst den Job annehmen. Aber bei aller Liebe, ich mag nicht hierher ziehen", sagte Klaudia, mit der er seit 22 Jahren verheiratet ist, jedoch, kaum dass sie Wedel erreicht hatten. Das Städtchen an der Elbe sei zwar ganz schön, aber 300 Kilometer zu weit weg. Von den Freundinnen, mit denen sich Klaudia regelmäßig zum Sport verabredet. Von ihren Eltern, die auch bei Glienicke wohnen. Von der katholischen Kirchengemeinde, in der sich die Iwanowskis engagieren. Von dem Haus, das in ähnlicher Größe im Hamburger Speckgürtel wohl deutlich mehr kosten würde. Einfach zu weit weg von Zuhause. Von der Heimat.

Seine Heimat, das sei Berlin. Die Stadt, in der er geboren wurde und sein Leben verbracht hat. Die Stadt, in der seine Familie wohnt. Für die sein Herz schlägt. Auch wenn der Verstand etwas anderes vorgibt.

"Meine Frau und ich haben gemeinsam entschieden, dass ich allein nach Norddeutschland gehe", sagt Sebastian Iwanowski. Etwa 2000 Euro kostet ihn das Pendeln im Jahr - oft fährt er mit dem Eurocity, immer mit Spartarif und BahnCards 25. Sozial kostet ihn das mobile Leben Zeit, die er lieber mit seiner Familie und seinen Freunden verbringen würde.

Nach einer Studie der Universität Mainz fühlen sich die meisten Pendler durch den Verlust sozialer Kontakte und die Entfremdung des Partners belastet. Besonders leiden die Ehefrauen der Pendler unter der Situation, zwei Drittel von ihnen fühlen sich durch die Mobilität ihres Mannes stärker belastet als dieser selbst. Weil die Frauen den Alltag der Familie an fünf Tagen der Woche allein managen müssen. Am Wochenende sei dann zwar der "Papa" da, doch der ist überarbeitet und sehnt sich nach Ruhe in der heilen Familienwelt.

"Natürlich habe ich manchmal schon ein schlechtes Gewissen, dass meine Frau, die nicht berufstätig ist, viele Dinge ohne mich regeln muss", sagt Sebastian Iwanowski. Andererseits, schiebt er hinterher, müsste sie das auch, wenn er in Berlin arbeite. "Da wäre ich auch den ganzen Tag weg." Die Entfernungen innerhalb der Hauptstadt seien riesig. Agnes, die älteste Tochter, fahre täglich mit S-Bahn und Bus an die FU Berlin, wo sie Englisch und Französisch auf Lehramt studiert. "Sie braucht für die Strecke anderthalb Stunden. Genauso lange, wie ich nach Hamburg unterwegs bin", sagt Sebastian Iwanowski. So gesehen sei fast jeder Berliner ein Pendler.

Nein, er führe eine glückliche Ehe. Und seine Frau sehe das auch ähnlich, sagt Sebastian Iwanowski lachend. Manchmal, wenn er abends in seiner Schlafkoje liegt, dann frage er sich, ob die Fernbeziehung auch dazu beitrage. "Es kann ja auch von Vorteil sein, wenn man sich nicht jeden Tag auf den Keks geht." Man sehe sich zwar nicht, spreche aber täglich mindestens eine Stunde miteinander. Das komme doch heute in kaum noch einer Ehe vor. Da lebten beide im selben Haus und seien einander doch ferner, als seine Frau Klaudia und er einander seien.

Denn jeden Abend um 22 Uhr ist Sebastian Iwanowski verabredet. Zum Abendessen mit seiner Frau. Weil beide davon überzeugt sind, dass gemeinsame Mahlzeiten wichtig sind für den Zusammenhalt. So wie es in einem früheren Familienleben mal üblich war, dass sich alle am Esstisch versammelten, sobald der Vater von der Arbeit kam.

Spätestens um 21.45 Uhr nimmt Sebastian Iwanowski den Fahrstuhl hinauf zu seinem "Junggesellen"-Appartement, für das er monatlich gerade mal 270 Euro Warmmiete zahlt. In der Kochnische schmiert er sich eine Stulle mit Salami und wartet, bis das Telefon klingelt. Aus Tarifgründen rufe immer seine Frau an, sagt Sebastian Iwanowski. Sie berichtet dann von ihrem Tag, während er durch die Leitung hört, dass sie zwischendurch in ihr Käsebrötchen beißt. Sie erzählt, dass die 18-jährige Sophia ein gutes Gefühl bei der Deutschklausur habe. Dass die 16-jährige Helena im Altgriechisch-Unterricht gelobt worden sei. Und dass Gregor, 14, heute mit seinen Kumpels auf den BMX-Rädern rumgekurvt sei.

Seine vier Kinder selbst riefen eher selten an, sagt Sebastian Iwanowski. "Sie melden sich eigentlich nur, wenn sie eine schwierige Mathe-Hausaufgabe nicht lösen können." Mit wichtigen Fragen warteten sie sonst bis zum Wochenende. "Sie wissen, dass dann Papa-Sprechstunde ist." Dann unternimmt Sebastian Iwanowski gern Ausflüge mit den Kindern, man geht wandern, paddeln und versucht die Woche im Zeitraffer nachzuholen. Es gelingt nie.

Für die knapp 700 Studenten, die Sebastian Iwanowski Algorithmen, künstliche Intelligenz und mathematische Grundlagen lehrt, ist er in der Woche da. Rund 50 Stunden insgesamt, schätzt er, die Stunden an seinem mobilen Schreibtisch im Eurocity eingerechnet. "Ich betrachte die Fahrt nicht als tote Zeit, sondern als Arbeitszeit", sagt er und deutet auf seinen Laptop, den er immer dabei hat.

Der Vorteil an seinem Beruf sei, dass er als Forscher und Professor ohnehin flexiblere Arbeitszeiten habe als jemand, der in einem Betrieb mit der Stechuhr kontrolliert werde. Zudem achte sein Kollege, der die Stundenpläne zusammenstelle, auf "pendlerfreundliche" Vorlesungszeiten. Das erste Seminar der Woche hält Sebastian Iwanowski derzeit am Dienstagmittag ab. "Weil der Kollege weiß, dass ich zuweilen montags am Abend in Berlin noch Orchesterprobe habe", sagt Iwanowski, der auch Querflöten-Solist ist. Und auch am Freitagnachmittag müsse er nicht mehr in der Uni unterrichten. "Weil man eine Fahrkarte für die ICE-Züge am Freitag gegen 17 Uhr so gut wie nie zum Sparpreis ergattern kann." Nein, außer der Reihe könne er nie nach Hause fahren. Und es mache ihn dann schon traurig, wenn er an den Geburtstagen der Kinder nicht bei ihnen sein könne. Oder wenn Sophia mitten in der Woche abends ein wichtiges Klaviervorspiel hat. "Ich möchte natürlich an meinem Familienleben teilhaben."

Sebastian Iwanowski steht, den Rucksack geschultert, die Laptop-Tasche in der Hand, an Gleis 9 des Bahnhofs Altona. Es ist Freitagmorgen, 9.40 Uhr, in wenigen Minuten wird er sich einen Platz an einem Vierertisch im Großraumwagen suchen. Dann ist Sebastian Iwanowski wieder unterwegs. Von Hamburg nach Berlin, von einem Leben in das andere.