Drei Derbys an einem Wochenende, darunter St. Pauli gegen den HSV. Die Fans hassen und brauchen sich. Ein Sieg ist das Größte.

Hamburg. Im Januar 2005 gelang einem Fußballfan von Borussia Dortmund ein ganz besonderer Schnappschuss: Er fotografierte Schalkes damaligen Trainer Mirko Slomka Arm in Arm mit einem vermeintlichen Anhänger der Gelsenkirchener. Auf dem Bild halten beide einen blau-weißen Schal in die Höhe. Die Aufschrift: "Scheiß Schalke."

Eine eher billige Attacke auf den verhassten Ruhrpott-Rivalen war das im Vergleich zum Saisonfinale 2007. Da nämlich charterten BVB -Anhänger ein Flugzeug, das dann mit einem großen Transparent über der Schalker Arena kreiste. Die Aufschrift auf dem Spruchband lautete, in Anspielung auf Schalkes verpasste Meisterschaften: "Ein Leben lang. Keine Schale in der Hand."

Der Fußball, das ist keine neue Erkenntnis, zieht seine Faszination aus der Rivalität zweier Mannschaften. Je größer die Gegensätze, desto aufgeregter das Vorspiel. Arm gegen Reich, Arbeiter gegen Bürgerliche, David gegen Goliath. Und das auf die Spitze getriebene Klischee kennt sogar Gut gegen Böse. Von daher ist das nun anstehende Wochenende für Fußball-Deutschland ein einziges Fest.

In den beiden größten deutschen Städten kommt es zu klassischen Lokalderbys, von denen es in der Vergangenheit nicht allzu viele gegeben hat: In Berlin trifft heute in Liga zwei Union auf Hertha BSC, in Hamburg am Sonntag St. Pauli auf den HSV . In Gelsenkirchen spielt danach Schalke gegen Dortmund. Und manch einer lässt in dieser Aufzählung sogar noch die Sonnabend-Partie Wolfsburg gegen Hannover als Niedersachsenderby gelten.

Als die "Mutter aller Derbys" gilt weltweit der argentinische Klassiker in Buenos Aires zwischen River Plate und Boca Juniors. Im Jahr 1994 fand die Rivalität der beiden Vereine einen grausamen Höhepunkt. River Plate siegte mit 2:0, woraufhin ein Boca-Fan den Mord an zwei Anhängern von River Plate in Auftrag gab. "Wir haben zum 2:2 ausgeglichen", war nach der Vollstreckung als Graffiti überall in der Stadt zu lesen. Eine Tat von Verblendeten.

Schon auf dem Feld begann es rau. Der Begriff Derby geht auf ein mittelalterliches Sportereignis in der englischen Grafschaft Derbyshire zurück. Mehrere Hundert Teilnehmer, aufgeteilt in zwei Mannschaften, versuchten, mit einem Ball einen Mühlstein zu berühren. Eine der wenigen Regeln dieses sogenannten Shrovetide-Fußballspiels, das es wohl seit dem 12. Jahrhundert gibt, lautete: Das Morden oder fahrlässiges Töten ist verboten, unnötige Gewalt ist verpönt. Allerdings belegen Chroniken, dass der Volksfußball damals eine "äußerst brutale Angelegenheit war, bei der es immer wieder zu schweren Verletzungen, vereinzelt sogar zu Todesfällen kam".

Wie auch immer. Der Ball jedenfalls durfte nicht in Taschen oder Rucksäcken versteckt werden. Das Spiel dauerte sechs Stunden. Und die Entfernung der beiden Steine betrug drei Meilen.

Heute stehen die Tore üblicherweise nur noch 105 Meter auseinander. Es ist enger geworden. Und vor allem bei den Derbys brodelt es auch in Deutschlands Strafräumen. Ob die freigesetzten Emotionen sich an diesem Wochenende ausschließlich in scherzhaften Aktionen erschöpfen?

Weil Schalke vor dem 136. Duell im Pott die Preise auf bis zu 50 Prozent - ein Stehplatz in der Gästekurve kostet 22 Euro, ein Sitzplatz im Schnitt 55 Euro - angehoben hat, gaben 1500 BVB-Fans ihre Tickets zurück. Was Dortmunds Trainer Jürgen Klopp süffisant kommentierte: "Ich finde es gut, dass unsere Leute nicht hingehen, um Klaas-Jan Huntelaar zu finanzieren." Der niederländische Stürmerstar wechselte für 14 Millionen Euro vom AC Mailand in das Team von Felix Magath. Der Konter des Schalke-Trainers: "Ob ernst gemeint oder nicht, das war unnötig. Die Verantwortlichen sollten nicht noch die Stimmung anheizen. Das Spiel ist brisant genug. Da muss keine zusätzliche Schärfe rein."

Die ist eh schon vorhanden. Weil Schalkes Torwart Manuel Neuer, 24, privat noch nie in Dortmund war - er mag die Stadt einfach nicht. Und weil Dortmunds Kevin Großkreutz, 22, in seinem ersten Interview erklärte: "Ich hasse Schalker wie die Pest." Und in einem Fragebogen von "Sport Bild" die Vorgabe: "Wenn mein Sohn Schalke-Fan wird ...", mit den Worten ergänzte: "... dann kommt er ins Heim."

Prompt musste der Jung-Star bei seinem Präsidenten zum Rapport. BVB-Boss Hans-Joachim Watzke: "Kevin hat auch Vorbildcharakter. Das habe ich ihm erklärt. Worte können die falsche Wirkung haben. Und wenn er sie sagt, haben sie einen noch viel größeren Sprengsatzeffekt. Wenn der erste Fan totgeprügelt wird, dann stehen wir alle in der Verantwortung."

Eine gefährliche Gratwanderung ist das. Sie hassen und sie brauchen sich. Was wäre Schalke ohne Dortmund? Arsenal ohne Chelsea? Celtic ohne Rangers? Rivalität ist eben auch Identität stiftend. Vor allem in Zeiten, in denen alles beliebig zu werden droht oder bis zur Unkenntlichkeit verschwimmt. Merkel kann am besten mit Steinbrück. Jan Delay singt mit Udo Lindenberg - ja was denn nun?

Markus Friederici, 41, ist sozusagen von Berufs wegen Experte für "Emotionen im Sport". Das ist nämlich der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit. Der gebürtige Lübecker arbeitet nach seiner Vertretung der Professur für Sportsoziologie und Sportökonomie in Chemnitz nun als Referent und Lehrbeauftragter an der Uni Hamburg. Woher kommt die Rivalität im Sport? Der Soziologe holt etwas aus. "Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis - einer Gemeinschaft anzugehören. Sie wollen etwas in der Gruppe erleben, sich austauschen und über den Austausch ihr Weltbild festigen", sagt er.

So fänden sich Gleichgesinnte mit ähnlichen Anschauungen. So verfestigten sich Einstellungen, die möglicherweise schon vorher vorhanden waren. Und so entstünden relativ homogene Interpretationsmuster. "Was gut ist und was schlecht, was ignoriert und was unterstützt werden sollte."

In Krisenzeiten werde die Suche nach diesen Gemeinschaften noch verstärkt. "Sie bieten Halt." Und es entstehen "Gefühle der Dankbarkeit im positiven und der Abhängigkeit im negativen Sinne". Diese Phänomene, sagt Friederici, greifen insbesondere bei Fußballgemeinschaften, weil dort, im Vergleich zu anderen Sportarten, vergleichsweise viele Menschen aus unteren Einkommensgruppen anzutreffen sind. "Insbesondere die Gruppe von Menschen, die unter dem Begriff des Prekariats zusammengefasst werden, also unter prekären Umständen leben." Hier könne das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe nicht nur eine zentrale, sondern die einzige Stütze sein, um das Leben zu meistern.

Und dann ist es unmöglich, Fan von beiden Hamburger Bundesligaklubs zu sein? "Möglich ist das, wenn man entweder wenig Interesse am Fussball hat oder vereinsübergreifend denkt - Hauptsache, Hamburg gewinnt", sagt er. "Ansonsten aber ist es nahezu unmöglich." Warum? "Das liegt insbesondere im Verein als Marke begründet", sagt Friederici. Eine Marke, die anders als eine Schrankwand, "maßgeblich über Emotionen, Traditionen und Rituale definiert wird". So entstehen "Polarisierungen und Stigmatisierungen, die in Verbindung mit Emotionen dazu führen können, dass aus einer sportlichen Rivalität Feindschaft wird".

Haben sich die Gruppen dann formiert und ist die Rivalität ausgeprägt, werde sie natürlich auch gepflegt. "Über Mythen, Rituale und Schmähgesänge."

Friedericis Forschungen haben aber auch Verblüffendes ergeben. "Fragt man Anhänger rivalisierender Gruppen, ist man mitunter erstaunt, wie viele Gemeinsamkeiten es doch gibt", sagt er. Die Rivalität sei zu einem Teil eben auch Folge eines Phänomens, das man aus vielen anderen gesellschaftlichen Feldern kenne: "Wiederholt man Pauschalisierungen nur oft genug, glaubt man irgendwann auch selber daran. Nämlich dass die einen alle links und die anderen alle rechts, dass in dem einen Verein alles demokratisch und in dem anderen alles autoritär abläuft. Dass die anderen die Bösen sind, und man selbst zu den Guten gehört. Zu denen, die es richtig sehen."

Jens Duve, 47, sieht von seinem Arbeitsplatz in der HafenCity immerhin noch ein Stückchen von der Elbe. Der Geschäftsführer von mehreren Reha-Zentren sitzt im 5. Stock am Kaiserkai und blickt zurück. Ihm selbst half 1991 keine Reha-Maßnahme mehr. Der groß gewachsene Innenverteidiger, der äußerlich nahezu unverändert daherkommt, musste nach zwei schweren Knieverletzungen seine Karriere beenden. Eine Profilaufbahn, die 1985 beim HSV begonnen hatte und 1991 bei St. Pauli abgepfiffen wurde. Wo schlägt das Herz heute? "Immer da, wo du mehr Erfolg gehabt hast", sagt er.

Beim HSV brachte er es bis zum November 1986 auf ganze zehn Bundesligaspiele, "obwohl Trainer Ernst Happel anfangs auf mich gebaut hat". Bei einem Spiel in Barcelona sah er gegen Marco van Basten dann aber "nicht so gut aus", kam später nicht an Ditmar Jakobs und Gerard Plessers vorbei.

Ausgerechnet die Ex-HSV-Stars Georg Volkert (als St.-Pauli-Manager) und Willi Reimann (als St.-Pauli-Trainer) überredeten den Hamburger, der das Fußballspielen bei Grün-Weiß Harburg gelernt hatte, zum Wechsel ans Millerntor. Dort absolvierte er 55 Bundesliga- und 49 Zweitligaspiele, wurde Kapitän. Also? "Ich denke, meine Sympathien gehören zu 75 Prozent St. Pauli und zu 25 Prozent dem HSV."

Besonders zerrissen wirkt der freundliche Vater von drei Kindern, der den Hass sowieso nicht in seinem Gefühlsrepertoire hat, dabei nicht. Rivalität ist für ihn grundsätzlich positiv besetzt. "Die braucht man, auch im Arbeitsleben, immer als Triebfeder. Sie ist Teil der Motivation, um die Ziele, die man sich gesetzt hat, zu erreichen."

Rivalität ist für ihn "Ansporn", sagt Duve, der auch im Beruf für seine rund 300 Mitarbeiter so eine Art Trainer ist und gerne mit Sportlern zusammenarbeitet. "Wenn um acht Uhr Treffpunkt ist, sind die auch da."

So einer ist auch nach seiner Karriere gefragt. Jens Duve sollte schon in beiden Klubs Führungsaufgaben übernehmen, was bisher aber seine Zeit nicht zugelassen hat. Noch geht die Familie vor. Und die Begleitung seines Sohnes, der ebenfalls eine Profilaufbahn im Auge hat. Dennis, 20, spielt unter Rodolfo Cardoso in der Regionalliga-Mannschaft des - HSV.

Es hat eben auch viel mit den zahlreichen Erfahrungen mit unterschiedlichen Menschen in beiden Vereinen zu tun, die Jens Duve zu einem gelassenen Anhänger machen.

Problematisch wird es nämlich erst, sagt Soziologe Friederici, wenn Meinungen nicht auf Erfahrungen basieren. Dann würden Erklärungen mitunter einfach durch scheinbar logische Schlüsse ergänzt. Doch die müssten nicht immer logisch sein. "In Schleswig-Holstein gab es vor einigen Jahren eine erhöhte Geburtenzahl, und im gleichen Jahr stieg auch die Zahl der Storchennester", sagt er. "Niemand würde ernsthaft behaupten, dass dies ein Beleg dafür ist, dass der Storch die Kinder bringt."

Manchmal aber, vor allem am Wochenende, ist das Leben auch herrlich unlogisch.