Es gibt Dinge, die macht man nicht: Man spricht nicht mit vollem Mund, drängelt sich nicht vor, läuft nicht in kurzen Hosen durch Kathedralen - und wagt sich nicht als St.-Pauli-Fan in die Westkurve des Volksparkstadions. Ich beichte: Ich habe es doch getan, am Abend des 14. März 1997. Spontan hatte ich ein paar HSV-Freunde auf die falsche Seite der Betonschüssel begleitet.

Natürlich weiß man, wo man steht - und versucht ein paar Manieren aus dem Elternhaus mit der Etikette des Fußball-Oberhauses zu mischen. Neutral kleiden, Fieber drosseln, Klappe halten. Drei Vorsätze, die lange hielten. Der HSV spazierte dem Sieg entgegen; schon in der zehnten Minute hatte Breitenreiter das 0:1 geschossen. Trotz des zwischenzeitlichen 1:1 hatten die Kiezkicker kaum eine Chance, fast im Gegenzug schoss Kmetsch das 1:2. Der Drops schien gelutscht, nur 45 Sekunden blieben zu spielen. Da geschah es: Richard Golz im HSV-Tor schießt beim Abschlag Nikolai Pisarew an, der spielt geistesgegenwärtig zu Scharping, Scharping schießt, und Tor! Totenstille, blankes Entsetzen in der Westkurve; nur ein Trottel mit Torschrei auf den Lippen reckt seine Arme in die Höhe. Der Trottel war ich.

Und während ich noch versuche, die Arme in Zeitlupe wieder herunterzunehmen, spüre ich schon eine Pranke auf der Schulter, drehe mich um und blicke auf Menschen, die mich in diesem Moment so lieben wie Hämorrhoiden oder ihren Torwart Golz. Ich setze das dämlichste meiner dummen Gesichter auf und frage unbedarft die Umstehenden "Wie. War das Tor jetzt nicht für uns?" Trottel haben auf der Tribüne Narrenfreiheit.

Vielleicht war es clever, kurzzeitig sein Fußballherz zu verleugnen. Und doch erinnert es an Petrus aus dem Lukasevangelium, Kapitel 22 - nur dass statt des dreifachen Hahnen- ein Torschrei kam. Der Fußballgott möge mir vergeben!

Bis zum Hamburger Derby beschreiben Abendblatt-Redakteure ihr ganz persönliches Derby-Erlebnis. Matthias Iken ist stellvertretender Chefredakteur.