Der Medien-Professor sieht mit Sarrazin eine Art Geschichtszeichen. Erstmals konnte die Linke den gesunden Verstand der “Menschen da draußen“ nicht zum Schweigen bringen

Alle sprechen heute von Parallelgesellschaften und meinen damit die schlecht integrierten Einwanderer in den Gettos unserer großen Städte. Aber es gibt auch Parallelgesellschaften, die sich bestens integriert und pudelwohl fühlen, obwohl sie längst jeden Kontakt mit der Wirklichkeit verloren haben. Sie rekrutieren sich aus unserer politischen Elite und den Medienlinken. Sie leben in geistigen Gettos und diktieren uns von dort aus, wie wir die Welt zu sehen haben.

Früher hat man vom Raumschiff Bonn gesprochen - doch das hatte immerhin noch Funkkontakt zur Bodenstation. In der Berliner Republik gewinnt man dagegen den Eindruck, dass sich die Spitzenpolitiker derart an der eigenen Weichspül-Rhetorik berauscht haben, dass Nachrichten aus der Wirklichkeit nur noch als Störgeräusche empfunden werden. Nun wäre es die Aufgabe der Journalisten, die Wortpolitik dieser Einheitspartei der Gutmenschen mit der Realität zu konfrontieren. Warum geschieht das nicht?

Nichts hat den Geist der Bundesrepublik Deutschland so nachhaltig geprägt wie die Generationenherrschaft der 68er. Ihre revolutionären Ideen sind zwar zerplatzt wie Seifenblasen, aber sie haben den Rat Gramscis befolgt und den Marsch durch die Institutionen angetreten, um von dort aus höchst erfolgreich den Kampf um die kulturelle Hegemonie aufzunehmen.

Seither gilt: Die Linke steht für Realitätsverlust und Kommunikationsmacht zugleich. Ihre Lufthoheit über die Diskurse hat aber nicht nur in Redaktionen und Verlagen ein geistiges Paralleluniversum geschaffen, sondern auch die Rhetorik der Politik so tief greifend verändert, dass sich eine nicht "linke" Politik kaum mehr artikulieren kann. Alle Politiker sprechen die gleiche weichgespülte, rot-grüne Sprache.

Seit Jahrzehnten haben die deutschen Linksintellektuellen keine politische Idee mehr gehabt. Und wenn man theoretisch nicht weiterweiß, wird man moralisch aggressiv. Die Erben der 68er, die der Berliner Philosoph Peter Furth "Wächtergeneration" genannt hat, ersetzen das Denken durch Moralismus und Sprachhygiene.

Die daraus resultierende Politik der Heuchelei begünstigt die Moralbonzen und Oberlehrer - leider nicht nur im Parlament, auch in den Feuilletons und Talkshows. Eigentlich sollten Journalisten ja nicht belehren, sondern berichten. Doch wie der Fall Sarrazin wieder gezeigt hat, dominieren in der veröffentlichten Meinung nicht die kritischen Geister, sondern die von Martin Walser zu Recht so genannten "Meinungssoldaten". Vor allem die Steigbügelhalter der "Weltmacht Habermas" ("Die Zeit") tun sich hier gerne hervor. Doch dessen "herrschaftsfreier Diskurs" ist in eine Sprachdiktatur der Politischen Korrektheit umgeschlagen. Und willig dienen ihr die Massenmedien als Organe der Gesinnungskontrolle. Das ist eine geistige Klimakatastrophe, die viel schlimmer ist als die ökologische.

Aber es gibt Zeichen der Hoffnung, Anzeichen für eine Götterdämmerung der 68er. So darf man den Fall Sarrazin als eine Art Geschichtszeichen verstehen. Erstmals sind die politische Elite und die mit ihr verbündete Medienlinke daran gescheitert, den gesunden Menschenverstand der "Menschen da draußen" zum Schweigen zu bringen. Jetzt wird es immer mehr Parteimitglieder geben, die dem Meinungsdiktat ihrer Parteivorsitzenden widersprechen. Jetzt werden immer mehr Journalisten die Courage zeigen, gegen die Schweigespirale in der eigenen Redaktion zu kämpfen. Jetzt werden sich immer mehr Professoren der von Kant definierten Doppelaufgabe stellen: zwar als loyale Beamte auch den größten Unsinn aus Brüssel und Berlin zu exekutieren, aber als Gelehrte die unbequeme Wahrheit zu sagen.

Die Sarrazin-Fans spüren, dass es um mehr geht als "Integration". Es geht um Mut und Aufklärung, um Wahrheit und Freiheit.

Wir werden erst dann in einer modernen, aufgeklärten, freiheitlichen Gesellschaft leben, wenn jeder wieder ohne Angst reden und schreiben kann, was er für richtig hält. Das setzt voraus, dass unsere Öffentlichkeit nicht mehr von den Meinungssoldaten der 68er-Wächtergeneration beherrscht wird, sondern dem liberalen Geist, der es mit Voltaire hält, wieder Raum zum Atmen gibt: "Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen."