Die einen reden vom Ende des Kulturguts Buch, die anderen sagen: Gelesen wird immer. Wie steht es also? Schlägt eBook das Papier?

Wenn man wissen will, wie es um die literarische Kultur bestellt ist, wie sie zurzeit (noch) aussieht, dann muss man Joachim Kersten besuchen. In seiner Anwaltssozietät, sie liegt direkt gegenüber der Uni, findet sich eine Schatzkammer. Regalweise Bücher, alte von Goethe und neue von Reinhard Jirgl, im Besprechungszimmer und in Kerstens Büro. Im Gang hängen Dutzende Fotos und Stiche von Goethe, Rilke, Klopstock und ihresgleichen. In seinem Büro: Bilder von Walter Benjamin, Arno Schmidt, und dazwischen ein Foto von Sophia Loren und Gina Lollobrigida. Ein Freund hatte Kersten gesagt, es sei so männlich-vergeistigt in seinem Büro. Kersten ist im Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung und fährt regelmäßig durch die Lande. Dann liest er zusammen mit Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach aus dem Großwerk "Zettels Traum". Eine Schwarte von 1300 Seiten. Kersten liebt die Dichter, er sagt: "Der Abschied vom Buch findet nicht statt, niemals."

Es gibt Menschen, die das anders sehen, und deswegen ist ungeachtet literarischer Großereignisse wie dem zurzeit in Hamburg stattfindenden Harbour Front Festival die Branche in Aufruhr. Nachdem zunächst infolge der technischen Revolution durch das Internet die Vertriebswege digitalisiert wurden, hat die Welle nun die Bücher selbst erfasst. Wir befinden uns an der Schwelle eines Paradigmenwechsels, eines kulturellen Bruchs: Das Ende des Massenmediums Papier ist eingeläutet. Für manch einen ist das Zeitalter der elektronischen Lesegeräte und eBooks, das nun anbricht, Grund für melancholische Anwandlungen. Für andere sind die Untergangsszenarien nur Kassandrarufe in einer unveränderlichen Welt, in der eine jahrhundertealte Tradition das Anstürmen der neumodischen Techniken unbeschadet überstehen, in der der Besitz einer Druckmaschine immer eine lohnenswerte Sache sein wird.

Es sind aber Verleger wie der Münchner Hanser-Chef Michael Krüger, die ganz offen sagen, dass sie nicht wissen, wie die literarische Kultur im Zeitalter ihrer elektronischen Verfügbarkeit aussehen könnte. Er sei sich nicht sicher, ob in 20 Jahren noch jemand einen Text als Buch lesen wolle, hat Krüger gesagt, und weiter: "Ob wir es schaffen, diesen Typus von Texten als Buch lebendig zu erhalten, dazu bedarf es des gesellschaftlichen Wollens."

Das Buch vor dem Verschwinden im Netz? Kersten, 63, lacht, wenn er die Grabreden auf das Buch hört. Er lacht, und dann fängt er an zu argumentieren, leidenschaftlich und eloquent, wie ein Plädoyer vor Gericht. Die Sinnlichkeit, sagt Kersten, "mit einem Buch umzugehen, kann eine Maschine nicht ersetzen". Er ist Anwalt für Presse-, Verlags- und Urheberrecht, er berät viele Schriftsteller in Vertragsfragen, er hat auch eine nüchterne Beziehung zu der Sphäre der Literatur, aber das Buch als Sammelobjekt ist der Stoff seines Lebens. Seit er 14 ist, notiert er in Notizbüchern mit schwarzem Einband jeden Titel, der in seine Sammlung kommt.

Zurzeit besitzt Joachim Kersten 33 275 Bücher.

Wie soll so einer an das Ende des Papiers glauben? In seinem Büro riecht es nach Papier, die Akten stapeln sich. Er sei kein Maschinenstürmer, sagt Kersten, "das soll's ja alles geben, eReader, iPad, wir haben sogar unserem Sohn eines geschenkt". Kersten kennt jedes Buch seiner Bibliothek, er hat sie nach Geburtsdatum des Autors sortiert, "nur eine materielle Bibliothek ist systematisch, die Bücher stehen in einer Art kulturellen Zwiesprache". Er mag es nicht, das "Knöppe drücken" und die "User", dieses Wort schon. Und dann schmunzelt er milde, wir befinden uns in einer Art fröhlichem Unterstand der Literatur.

Nur einen Steinwurf weit entfernt, in der Staatsbibliothek der Universität, die alle nur Stabi nennen, wurden 2009 genau 1 270 218 Titel entliehen - physisch. Digital wird vor allem auf Zeitschriftentitel zugegriffen. In Zukunft, erklärt Petra Blödorn-Meyer, die Leiterin der Hauptabteilung Bestandsaufnahme, werden Bibliotheken nicht mehr alles physisch sammeln, "es wird Schwerpunkte geben in den einzelnen Disziplinen". Dissertationen sind jetzt schon fast nur in digitaler Form erhältlich, aber dass hier irgendwann nur noch Rechner stehen und ein riesiger Server, mag sich keiner vorstellen.

Überhaupt, der Server: Wie wichtig der ist! Wie gut ist die Technik, wie lange hält ein Server? Sind die Daten sicher? In der Stabi geht es wie überall, wo es Kunden gibt, um Produktmanagement, und deshalb läuft seit 2006 die Digitalisierung. Alte Urkunden, Zeitungen sind jetzt auf dem Rechner zugänglich, die Originalobjekte werden geschont. Tatsächlich, hier ist die neue, die digitale Welt dafür da, um die andere, die alte zu erhalten. Man kann von jetzt auf gleich einen Text aus der Bibliothek zu Hause auf dem Bildschirm haben; dafür gelten in wissenschaftlichen Arbeiten neue Zitierregeln: Belege mit URL-Adresse und Uhrzeit sind keine Seltenheit mehr. An eine Zukunft ohne Buch glaubt Blödorn-Meyer nicht, sagt sie, da kann der PC noch so majestätisch auf dem Schreibtisch thronen.

Es ist nicht so, dass schon alles geregelt ist: Zum Beispiel die Frage, was die Studenten herunterladen dürfen und was nicht - Stichwort Copyright. Joachim Kersten, der Bücher liebende Anwalt, hat viele Autoren in Urheberrechtsstreitigkeiten gegen Google vertreten, meistens erfolgreich. Das Urheberrecht von 1965 ist sehr gelungen, findet er, "es ist nur schwierig, die Verletzungen bis ins letzte Glied zu verfolgen". Das sei der habituelle Nonsens im Internet: Die Leute kennen kein Urheberrecht. Aber, sagt Kersten, der Gesetzgeber hat alle Mittel, er muss sie nur anwenden, indem er eine Impressumspflicht einführt. Oft gebe der Gesetzgeber in Urheberechtsfragen nach und schütze geistiges Eigentum nicht - skandalös findet Kersten das, "die Gerätehersteller haben die größere Lobby".

Marshall McLuhan, der amerikanische Theoretiker, sprach bereits 1962 vom Ende der Gutenberg-Galaxie, er tat dies nüchtern. Die Ent-Materialisierung der Literatur durch neue Technologien erscheint logisch.

Jürgen Könnecke hat sein Büro im Könnecke-Haus, nebenan ist die Europapassage. Der Thalia-Buchladen dort gehört Könnecke nicht mehr, aber er ist noch Gesellschafter der Buchkette mit ihren fast 300 Filialen, die seit 2001 zu Douglas gehört. Könnecke, 74, sitzt immer noch fast jeden Tag an seinem Schreibtisch. Er mag Bücher, und nicht nur, weil er damit Geld verdient; ein Buchhändler ohne Bibliothek und Sammelleidenschaft, was wäre das? 1931 übernahm Könneckes Vater die Theaterbuchhandlung am Thalia. Der Sohn spricht bedächtig und wie ein echter Hanseat: S-tolz ist er auf seine Auswahl an Hamburgensien, manche aus dem 19. Jahrhundert. Könnecke hat ein Notizbuch, es steckt in der Innentasche des Sakkos. Der Blackberry liegt ungenutzt zu Hause, und im Büro steht kein PC.

Wenn ihm die Leute von Douglas-Thalia die neuesten Markt-Charts schicken, dann passiert es vielleicht mal, dass er müde die Augen reibt. Er ist ein Papiermensch, er malt mit Textmarkern in den Tabellen herum, "ich drucke mir immer alles aus". Man kann mit Könnecke aber auch über Herta Müller und Le Clezio reden. Der Douglas-Mann, der seit 2001 an der Spitze des Konzerns steht, hat sich mal von einem Journalisten vorführen lassen, er hat es nicht so mit der Literatur. Das ist natürlich blöd.

Aber Könnecke hält viel von ihm, und das Bild, das oft von den großen Buchhandelsketten gezeichnet wird, mag er nicht. Damals war er sauer: die angebliche Allmacht der Ketten, das Sterben der kleinen Buchhandlungen, "das hat nichts miteinander zu tun". Könnecke sagt: "Ich liebe kleine Buchgeschäfte, natürlich will ich, dass es sie weiterhin gibt." Vielleicht, sagt er, "ist die Kritik an uns manchmal berechtigt, meist schießt sie aber über das Ziel hinaus". Der Puls bleibt niedrig, und natürlich kann Könnecke nichts daran finden, sein Geschäft stetig vergrößert zu haben. Auf jeder Reise geht er in Buchhandlungen, so oft, dass seine Frau schon richtig genervt ist.

Zwei Buchhandlungen, in Norderstedt und Volksdorf, führt die Familie Könnecke noch privat. Könnecke plaudert gerne über die Entwicklung von Thalia, und wenn er stolz auf das Erreichte ist, lässt er es sich nicht anmerken. Das Glattstreifen der Krawatte ist die einzige Geste, die er sich gönnt. Melancholie und Nostalgie kann sich ein Kaufmann nicht erlauben, sagt Könnecke, und dann: "Die Leute kommunizieren im Internet, sie kaufen im Internet." Deswegen hat Thalia früh das Online-Geschäft besetzt; aber was macht der Buchhändler, wenn die Leute keine Bücher mehr kaufen? Er entwickelt selbst ein Thalia-Lesegerät, das er zum Verkauf anbietet. Könnecke selbst wird immer nur Bücher zu Hand nehmen, da ist er sich sicher. Er hält ein imaginäres Buch in den Händen und streichelt es.

In Günter Bergs Büro bei Hoffmann und Campe herrscht gute Stimmung, der Chef behauptet sehr selbstbewusst: "Das Kulturgut Buch lebt!" Trotzdem liegt auf dem Konferenztisch ein iPad, tatsächlich. Und einen "Kindle" (das Amazon-Lesegerät) hat Berg auch zur Hand, seine Lektoren arbeiten damit. Wie praktisch, keine dicken Manuskripte mehr, "und meine Sekretärin schickt mir neue Texte einfach auf die Geräte". Aber das Ding soll das Buch ablösen? "Ein Buch bleibt, ein Gerät geht kaputt, hält nicht ewig, das kann man nicht mit zum Strand nehmen", sagt Berg.

Das mit dem Strand sagen alle Verteidiger des Buchs übrigens. Berg traut der Technik nicht, aber Töchterchen Josefine durchaus. Die größere Tochter kann dagegen mit dem Brockhaus nicht umgehen, "was bedeutet der Pfeil bei dem Artikel, wo schlage ich da nach? So in etwa", erzählt Berg.

Er glaubt, dass die Zeit für gedruckte Enzyklopädien abgelaufen ist, klar, "und Fachverlage werden es schwerer haben, Taschenbücher werden auf eReadern gelesen werden". Aber hochwertige, schöne Hardcover, wie sie bei Hoffmann und Campe erscheinen, die haben immer Konjunktur, sagt er. Die Branche sei ruhig und entspannt, er widerständig, selbstbewusst und voller Glauben. "Trotzig? Nee."

Das gute, schöne Buch: Gestaltet wird es von Menschen wie Andreas Heilmann und Gundula Hißmann. Die Buchgestalter arbeiten in luftigen, großzügigen Altbauräumen in Ottensen. Heilmann, 50, und Hißmann, 44, entwerfen die kompletten Verlagsprogramme von S. Fischer und Aufbau, und ihre geschäftige Lässigkeit steht vielleicht stellvertretend für den Wandel der Zeit, den man nicht aufhalten kann. Wenn es irgendwann keine Bücher mehr gibt, wenn die Dingwelt im Computer verschwindet, "wird es trotzdem noch Cover geben", sagt Heilmann.

Sie entwerfen ihre Cover und Einbände ja ohnehin am Computer. Manchmal scribbeln sie noch, auf Papier, "aber diese Technik stirbt auch aus". Zukunftsangst? Nö. Obwohl sie wissen, dass die Branche nicht gerne über die elektronische Gefahr redet. "Wir machen nur die Verpackung, die braucht man auch als Cover bei amazon." Gundula Hißmann findet: "Es wird keine dreidimensionalen Arbeiten mehr geben, der Buchrücken fehlt, das ist schon schade."

In den Büros stapeln sich Bücher, viele noch eingeschweißt. Alles Belegexemplare fürs Portfolio. Unten, an der Tür, liegt eines, als Keil. So geht sie nicht zu, und man steht ohne Hindernis vorm Schreibtisch und einem sehr schwarzen und schicken Computer.