Anfang August schloss sich auch Jürgen Trittin der Auffassung an, dass die Volksparteien, wie wir sie bisher kannten, verschwinden würden. Sigmar Gabriel hielt in der "taz" dagegen, dass Trittin und alle, die das so sähen, nicht verstanden hätten, dass "Volkspartei" nicht Größe, sondern Qualität von Parteien meine, nämlich die Versöhnung unterschiedlicher Interessen oder Milieus. Damit hat Gabriel recht.

Aber das macht die Diagnose nur noch härter und wirft schließlich eine Frage auf, der sich auch die Grünen stellen müssen, nämlich wie man konzeptionell arbeitet, wenn die Verantwortung für die zentralen Themen nicht mehr der Versöhnungskraft von CDU und SPD obliegt. Dass sie das nicht tut, kann man beispielsweise an der Rente-mit-67-Diskussion sehen.

Offenbar ist sie ein Beispiel dafür, was Gabriel als volksparteiliche Aussöhnung versteht: Verschieben des Zeitpunktes, unklare Richtschnur, halbherziger Beschluss, im Grunde keiner, aber Frieden in der Partei.

Wenn das Gabriels Vision einer Volkspartei ist, dann ist ihre Zeit wirklich vorbei. Die Probleme, die wir haben, sind so groß - Klimawandel, Verschuldung der öffentlichen Hand, Auseinanderfallen der Gesellschaft, ein Bildungssystem, das nicht mehr leistungsgerecht ist, ungerechtes und unterfinanziertes Gesundheitssystem, unübersichtliche Familienförderung, Kriege -, dass das volksparteiliche Aussitzen und die kompromisslerischen Verschiebebahnhöfe schlicht und einfach unverantwortlich sind.

Dass SPD und CDU sich dieser Situation stellen müssen, bedeutet faktisch, dass sie es nicht mehr allen recht machen können.

Aber auch umgekehrt wird ein Schuh draus. Dass die ehemals Großen kleiner werden, bedeutet faktisch, dass auch den ehemals Kleinen eine andere Verantwortung zuwächst. Sie können, im Umkehrschluss, sich nicht darauf beschränken, es nur einer Minderheit - im schlimmsten Fall einer Lobby - recht zu machen. Jedenfalls nicht, wenn sie sich der Verantwortung für ihre Gegenwart stellen. Die FDP hat das nun gerade erlebt. Sie hat mit 14 Prozent Politik für drei Prozent der Bevölkerung gemacht. Nichts an ihrem Absturz ist überraschend.

Die Grünen, gern mit der FDP parallelisiert, haben eine andere Ausgangslage, aber die gleiche Herausforderung. Die klassischen grünen Themen sind Querschnittsthemen, sie betreffen alle Gruppen der Gesellschaft. Und es sind keine Gewinnerthemen, die allen alles versprechen, sondern sie sind auf Veränderung, Einschränkung und gegebenenfalls Verzicht angelegt. Das feuilletonistische Staunen, dass die Grünen, obwohl vom Milieu her eher mittelständisch und akademisch, für höhere Steuern, für mindestens eine konsequente ökologische Besteuerung, für die Bürgerversicherung, für Gemeinschaftsschulen sind, dass also nicht die gesellschaftlichen Gewinner ihren Gewinn nur maximieren wollen, ist eben dafür blind.

Die Grünen sind von ihrer Gründung an als Querpartei angelegt, nicht als Gruppeninteresse. Und insofern sind sie potenziell darauf verpflichtet, ihre Positionen mehrheitsfähig zu machen.

Ich rede dabei nicht von Umfragen. Es ist richtig, in Berlin oder Baden-Württemberg sind die Grünen mit der SPD gleichauf. Und vielleicht wird Renate Künast die erste grüne Regierungschefin. Aber der Punkt ist nicht das Umfragehoch. Der Punkt ist, objektiv zwingende Antworten so zu geben, dass sie mehrheitsfähig werden. Die Grünen dürfen sich nicht aus Angst, Stimmen zu verlieren, in einen Volkspartei-Kompromiss retten.

Der Zuspruch zu ihnen ist im Kern ein Zuspruch für gesellschaftliche Umgestaltung. Daraus erwächst nun aber die große Aufgabe, die Themen, die gesellschaftlich das Zentrum bilden, auch konzeptionell zu bewältigen.

Programmatisch haben die Grünen das längst erkannt und mit dem Green New Deal ihre klassischen Themenfelder mit Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik verzahnt.

Daraus ist seit der erneuten Opposition nun eine konzeptionelle Arbeit geworden, die die Forderungen operationalisiert, und wo sie das noch nicht ist, muss sie es werden.

Bürgerversicherung, Rentensicherheit, Sozialsysteme, Steuerpolitik - es ist ein Unterschied, ob man 7 Prozent oder 17 Prozent nach einer Wahl hat. Und die guten Umfragewerte müssen die Grünen noch ehrgeiziger machen. Dann gelingt der Übergang von der Volkspartei zur Konzeptpartei. Und zwar vor einer Wahl.