Der neue Erste Bürgermeister erhielt zwei Stimmen mehr, als GAL und CDU haben. Möglich, dass diese aus der SPD kamen. Hier ein fiktives Gespräch der beiden.

Sie haben nie darüber geredet, und doch kennt jeder das Unterbewusste des anderen. So ist das, wenn man die gleiche Schuld trägt: Es kann passieren, dass man sich im Albtraum trifft, zum Zwiegespräch. Doch den Morgen vor der Wahl des Bürgermeisters Christoph Ahlhaus in der Bürgerschaft erleben beide Sozialdemokraten zunächst anders. Sie eint nur, dass sie dem CDU-Mann ihre Stimme geben wollen - heimlich.

Nummer eins pfeift ein munteres Liedchen: "Heute darf ich einen Bürgermeister wählen ... und kann meine Fraktion quälen." Er denkt an die wärmende Dunkelheit, die ihn in der Wahlkabine umgeben wird: Diese Aussicht auf Anonymität lässt seinen Bauch kribbeln, ein bisschen so, wie vor einem Besuch in einer Peepshow. Das wird schmutzig.

Nummer zwei ist stiller. Es ist ihm unangenehm, über eine Leiche zu gehen. Klar, es wäre fair gewesen, seinen Fraktionschef vorher zu informieren, aber das geht jetzt nicht. Der Mann wird dadurch zum Kollateralschaden - das ist okay, wenn man höhere Pläne verfolgt. So steht es auch in "Schuld und Sühne", dem Roman von Fjodor Dostojewski.

Immerhin, die historische Gesellschaft eint Nummer eins und Nummer zwei. Abweichler in geheimen Wahlen gab es oft: Die Entmachtung der britischen Premierministerin Margaret Thatcher begann so, dem sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt fehlten Stimmen aus den eigenen Reihen, und als Kanzler Willy Brandt im Jahr 1972 der Abwahl durch ein Misstrauensvotum entgegensah, appellierte er an Abweichler, sich zu erkennen zu geben: "Warum bekennen Sie sich nicht vor dem deutschen Volk?"

Bekennen wollen sich die beiden Sozialdemokraten nicht. Aber sie hassen jeweils das Motiv des anderen: Im Traum treffen sie sich nach der Vereidigung von Ahlhaus vorm Kurt-Schumacher-Haus: Sie duzen sich im fiktiven Traumgespräch, sie sind ja Genossen.

Nummer zwei: "Du bist ein kleiner Hinterbänkler, der sich in Allmachtsfantasien sonnt."

Nummer eins: "Das ist Demokratie. In der Kabine bin ich alleine mit meinem Gewissen. Diese Rechthaber in der Fraktion haben einen Denkzettel verdient."

Nummer zwei: "Es geht nicht um dich, sondern um die Partei. Denke mal strategisch: Sonst wird dieser Diktator noch unser Bürgermeister-Kandidat im nächsten Wahlkampf."

Nummer eins: "Wer sich in Allmacht sonnt, bis du. Wer Spitzenkandidat wird, darüber bestimmen sowieso nicht wir."

Nummer zwei: "Ach, das alte Märchen vom Ehepaar Scholz-Ceausescu. Das beim Abendbrot in Altona um seine Karriere feilscht."

Nummer eins: "Denke dran: Eine Ehefrau kann wichtiger sein als jeder Chef. Sie müsste auf ihre Karriere verzichten, wenn er Bürgermeister wird."

Nummer zwei: "Völlig überbewertet. Die sind zu schlau, um sich gegenseitig zu blockieren. Wichtiger ist doch, dass ich der Öffentlichkeit ein klares Signal gebe: Es dackeln nicht alle Sozis hinterher, nur weil der jetzt an der Macht ist."

Nummer eins : "Denk mal weiter: Du schadest unserer Parteispitze damit nicht, du hilfst ihr sogar. Die brauchen nämlich noch bis 2012, um sich auf die Wahlen vorzubereiten. Jede Stimme für Ahlhaus stabilisiert diese Perspektive."

Beide schauen sich tief in die Augen, aber halten den Blick des anderen nicht aus. Ein weiterer Genosse fährt auf einem Stadt-Leihrad vorbei, hält aber nicht an.

Nummer eins (zeigt auf ihn): "Du hättest dich enthalten können, wie der!"

Nummer zwei: "Verräter!"

Nummer eins: "Selber!"

Beide stehen wortlos herum, es beginnt zu regnen. Mahnend schwebt das große SPD-Schild am Eingang des Kurt-Schumacher-Hauses über ihnen.

Nummer eins: "Komm, gib's zu."

Nummer zwei: "Was?"

Nummer eins: "Dass es dir auch Spaß gemacht hat, in der Wahlkabine."

Nummer zwei: "Na, war schon ganz gut. Als das Ergebnis kam."

Nummer eins: "Hast du laut ,Buh' gerufen, zur Tarnung?"

Nummer zwei: "Nein, zu auffällig."

Beide stehen und grinsen, dann fallen sie sich in die Arme.

Nummer eins und zwei (lachen): "Ja, wir sind zwei miese kleine Hinterbänkler."