40 Jahre Haynstraße 1: In Hamburgs wehrhafteste Hausgemeinschaft kehrt Ruhe ein

Hamburg. Es ist wohl Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet eine Psychologin die Seele des Hauses verkannt hat. Dabei hätte sich die Akademikerin denken können, dass ihr Plan einer hauseigenen Praxis der marxistisch geprägten Mietgemeinschaft widerspricht. Ihr geschäftstüchtiger Vortrag muss auf die linksalternativen Bewohner gewirkt haben, als wolle Josef Ackermann einziehen, weshalb es endete, wie es enden musste: Nach basisdemokratischem Votum der Mieter konnte sich die Psychologin ihren Einzug in die Haynstraße 1 abschminken. "Sie war aber eine der wenigen, die in schlechter Erinnerung geblieben sind", sagt Reinhard Barth.

40 Jahre wohnt der Mann nun schon im Erdgeschoss des Eppendorfer Hauses, das berühmt geworden ist, weil es studentische Mieter in den 70er-Jahren zunächst vor dem Abriss bewahrt haben. Weil sich die Bewohner bis heute erfolgreich gegen alle Räumungsversuche zur Wehr setzen. Weil ihr Bollwerk gegen juristische Angriffe ein 1975 aufgesetzter Mietvertrag für das gesamte Haus ist, der den Mietern sehr viel und den Eigentümern sehr wenig Rechte einräumt. Und weil die allmächtigen Mieter bis heute eine halböffentliche Wohngemeinschaft pflegen, die von der Maxime "Solidarität, Achtung, Beteiligung" getrieben ist.

Die Summe machte das Haus Haynstraße 1 zur wehrhaftesten Hausgemeinschaft Hamburgs. Wobei in all den Jahren nur wenigen Bewerbern - wie der Psychologin - der Einzug verwehrt blieb. Meistens zogen aber ohnehin Bekannte der Vormieter ein, die das ideologische Credo bereits vor ihrer Vorstellungsrunde inhaliert hatten.

Barth selbst ist als langhaariger 26-jähriger Student eingezogen. In ein paar Tagen wird er 67 und mittlerweile dominiert ein kurzer grauer Schopf sein Haupt. Als Sachbuchautor hat er maßgeblich mitgestrickt am Mythos, der das prachtvolle Jugendstilhaus umrankt. Es gilt vielerorts noch immer als "Kommunistenhaus", "besetzt" und irgendwie anders im feinen Eppendorf. "Ich finde aber, diesen Widerspruch kann man heute nicht mehr aufbauen. Eigentlich leben wir nämlich in bestem Einvernehmen", sagt Barth. Und würde nicht hin und wieder ein Parolenband an der renovierten, unter Denkmalschutz stehenden Fassade baumeln oder der "Spekulantenfresser", ein Pappdinosaurier, über die Hecke lugen, würde das Haus im schnieken Umfeld nicht auffallen.

Am Wochenende, wenn mal wieder ein Straßenfest gefeiert wird, fällt das Haus aber wieder auf: 100 Jahre Baugrundstück und 40 Jahre "Besetzung" werden gewürdigt, was die Frage aufwirft, ob der irgendwie hippiesk wirkende, auf Gemeinschaftssinn fußende Lebensentwurf noch zeitgemäß ist. "Durchaus", sagt Barth, obwohl die Bewohner inhaltlich etwas bürgerlicher geworden seien - und äußerlich älter. Das Ideal vom besseren Zusammenleben passe perfekt in die Zeit. Es ist aktueller denn je, wo doch allerorten mehr Bürgerengagement gefordert wird. Nicht umsonst griff "Der Spiegel" diese Entwicklung vom Bürgerschreck zum Bürgertum in der Haynstraße im Jahr 2005 auf und überschrieb den Text mit "Die besseren Bürger".

Noch heute müsse sich jeder Bewohner der Absichtserklärung vom "Sozialen Leben" unterordnen. Alles wird noch immer in der Gemeinschaft beschlossen. Grundsätzlich stünden alle Türen allen Hausbewohnern offen. Während der monatlichen Mieterversammlungen werden zwar nicht mehr die großen politischen Weltlagen gewälzt, auch Spruchbänder wie "Gorleben muss leben" prangen kaum noch an der Front. Aber zur Schulreform äußerten sich die Bewohner mal wieder, und zwar im Sinne des Senats mit dem Transparent "Wir sind doch nicht bescheuerlt". "Tja, mittlerweile kann ich wohl nicht mal mehr ausschließen, dass einige Bewohner ihr Kreuz bei der CDU machen", sagt Barth. Früher sei das undenkbar gewesen.

Barth selbst wohnt mit vielen Büchern, Hund Rocca und einem Mitbewohner auf den 120 Quadratmetern, die er als Germanistikstudent bezog. 14 der 24 Wohnungen sind mittlerweile Eigentum der Mieter, nur zehn gehören "Fremden". Nach wie vor dürfen die aber nicht in ihre Wohnungen ziehen, den letzten Prozess verloren sie 2008.

In fünf Geschossen nebst Dachwohnungen seien demnach aktuell 38 Erwachsene und vier Kinder zu Hause. Allesamt leben sie nach den Regeln der Mietgemeinschaft, und zwar noch immer unschlagbar günstig. Ihr außergewöhnlicher Mietvertrag sichert den Bewohnern nämlich nicht nur Wohnrecht zu, sondern auch moderate Mietsteigerungen, weshalb sie nur ein Drittel des ortsüblichen Tarifs zahlen - etwa 3,50 Euro pro Quadratmeter.

In das selbst verwaltete Haus an der Haynstraße ist Ruhe eingekehrt. Einige sind dem WG-Leben entwachsen und ziehen es vor, allein oder mit Familie zu leben. Andere, wie Reinhard Barth, haben Mitbewohner. Aber die geschäftstüchtige Psychologin, die dürfte vermutlich immer noch nicht einziehen.