Der Modemacher Jürgen Hartmann war einer der engsten Freunde Heidi Kabels. An ihrem Grab hält er stille Zwiesprache mit der Volksschauspielerin

Hamburg. "Dein Wille geschehe" steht am schmiedeeisernen Eingangstor des Nienstedtener Friedhofs. Hinter der Kapelle führt der Sandweg ein kleines Stück geradeaus, dann am steinernen Brunnen nach links. Jürgen Hartmann hält einen Moment inne. "Heidi und ich waren vier Jahrzehnte lang Freunde", flüstert er, "und irgendwie ist sie immer noch bei mir." Ein bisschen seelische Stärkung für die letzten Meter. Dann geht er weiter.

"Ton Leben hört de Dood", ist in den leicht verwitterten Stein gemeißelt. Zum Leben gehört der Tod. So wie es Heidi Mahler bei der Trauerzeremonie zum Gedenken an ihre Mutter Heidi Kabel am 25. Juni im Michel gesagt hat. Darüber stehen Name und Sterbedatum ihres 1970 nach einem Herzinfarkt viel zu früh verstorbenen Vaters Hans Mahler.

Seit dem 26. Juni ruht Heidi Kabel an seiner Seite. Friedlich und ohne bitteres Vermächtnis. So wie es sich die großartige Volksschauspielerin gewünscht hat. Hohe Bäume schirmen die Sonnenstrahlen weitgehend ab, ein sanfter Spätsommerwind weht. Die Grabstelle wirkt schlicht, das Gegenteil von pompös. Irgendwie passend. Efeu rankt sich um den Stein; daneben steht eine Eibe. In ihrem Schatten blühen Männertreu und Fleißige Lieschen. Jemand hat Lilien in eine Vase neben dem Grab gestellt. Hartmann platziert eine langstielige, weiße Rose daneben. Am Freitag wäre ihr 96. Geburtstag gewesen. Hartmann verneigt sich. Der Rest ist Schweigen.

Durch das Tor zurück auf die Rupertistraße. Tiefes Durchatmen. Stille. Langsame Schritte. An der Ecke Nienstedtener Straße stoppt Jürgen Hartmann. "Heidi war eine einmalige Frau", sagt er, "warmherzig, gutmütig, ehrbar, von Gottvertrauen geleitet." Eine Seele von Mensch. "Sie fehlt mir sehr", fährt er nach kurzer Pause fort. Allerdings fehle sie ihm schon seit drei, vier Jahren sehr. Weil sich ihre Demenz bereits da immer intensiver um ihre Sinne gelegt habe. Mit der Folge, sagt Hartmann, dass sie von der Vergangenheit noch viel wusste, indes die Gegenwart kaum noch realisieren konnte. Letztlich sei das Ende eine enorme Erlösung für die einstmals so aufgeweckte Frau gewesen.

Hartmann räuspert sich, deutet Richtung Langelohstraße, dort wo Heidi Kabel in ihrem gelb getünchten Haus so viele glückliche Jahre verlebte. "Hier sind wir immer runter zur Elbe gelaufen", erzählt der weißhaarige Modemacher. "Sie liebte ihren Stadtteil und die Normalität der Bürger hier."

Als "mein Dorf" habe sie ihn bezeichnet. Mit ihrer "Villa Hügel" als Trutzburg wider den Stress des Theater- und Tourneealltags.

Zur Kanzleistraße sind es keine fünf Minuten. Im Garten des Ratsherrn-Ecks serviert die Kellnerin Alsterwasser und Kaffee. Wie fing denn alles an? Wie lernte die Doyenne Heidi Kabel den Couturier Jürgen Hartmann kennen und recht schnell wertschätzen? Sodass beide mehr als 150-mal im Duett auf der Bühne standen und norddeutsches Liedgut zum Besten gaben? Sodass sie gemeinsam fast 30-mal in den Sommerurlaub fuhren, davon 18-mal nach Abano in den Norden Italiens. Die "Drei Musketiere" aus der Hansestadt und mehrfach auch die Verlegerschwester Ingeborg Springer. Eine höchst lebenslustige, fidele Truppe sei da auf Tour gewesen.

Im Spätherbst 1970, wenige Monate nach dem urplötzlichen Tod ihres Hänschen, stand Heidi Kabel nach telefonischer Anmeldung durch ihre Managerin erstmals in Hartmanns Atelier An der Alster 21. Für einen Auftritt in einer Livesendung des gleichfalls legendären Showmasters Hans-Joachim "Kuli" Kuhlenkampf wollte sich die seinerzeit 56 Jahre alte "Hamborger Deern" ein Kleid schneidern lassen. Hartmann, der von jeher zahlreiche namhafte Künstler zu seiner Klientel zählte, riet zu blau gemustert. Zögerlich habe die neue Kundin eingewilligt, die anfangs in Sachen Mode eine "kleine Feldmaus" gewesen sei. Beige, Grau, Dunkelblau, und das alles bitte uni und am liebsten geblümt, seien ihre favorisierten Farben gewesen. Mit Mode habe sie nichts am Hut gehabt.

In Harmonie zu ihrem bescheidenen Lebensstil kleidete sie sich auch. "Als ich Heidi kennenlernte, war sie meilenweit von Opulenz entfernt", erinnert sich der gebürtige Mecklenburger, Hartmann, "und auch später war der Luxus wahrlich nicht ihre Welt." Butterbrot und Bockwürstchen reichten vollkommen. Im Laufe der Jahre und mit fortschreitender Karriere erfreute sie sich auch an Birnen, Bohnen und Speck oder Labskaus. Im gehobenen Alter zog sie "rare" gebratene Filetsteaks mit einer Riesenportion Schmorzwiebeln vor. Aber Hummer oder gar Schampus? Das war partout nichts für "Uns Heidi".

Im meist drei- bis vierwöchigen Abano-Urlaub, zweimal im Hotel Due Torri und anschließend 16-mal im Victoria Trieste, sei der eine oder andere Campari-Orange das Höchstmaß des Genusses gewesen. Wenn die Jungs eine Canasta-Runde einlegten, habe sich die Deern als Kiebitz betätigt. Zocken sei ganz und gar nicht ihre Sache gewesen. Nur im hohen Alter, im Pflegeheim in Othmarschen, habe sie gelegentlich "Sechsundsechzig" gespielt. Die drei Männer des Hamburger Quartetts hätten die Dame in ihren Reihen bisweilen ob ihrer wortkargen Art auf die Schippe genommen - und statt einer Antwort ein entwaffnendes Lächeln geerntet. Die "Drei Hamburger Musketiere", das waren neben Hartmann der mittlerweile verstorbene Banker Hermann Bock sowie Hartmut Zierau, damals Herstellungsleiter im Carlsen Verlag. Oft habe Heidi Kabel die Ferien genutzt, um konzentriert Drehbücher zu lernen. Fleißig und diszipliniert sei sie gewesen. Jedoch nicht in Übermaßen.

Hartmann ordert noch einen Kaffee und schwelgt in Erinnerungen. Er berichtet von den letzten Abendessen im Mövenpick im Hanse-Viertel im Anschluss an Ohnsorg-Premieren, die Heidi Kabel als Abonnentin verfolgt habe. Ganz selbstverständlich wurde Garderobenfrau Klara mitgenommen. Und, gleichfalls selbstverständlich, habe die überaus spendable und auch wegen stets üppiger Trinkgelder bei allen dienstbaren Geistern geschätzte Heidi Kabel die Zeche gezahlt.

Hartmann schwärmt weiter. Von einem gemeinsamen Diät-Urlaub in einem Sanatorium am Starnberger See. 600 Kalorien am Tag bedeuteten eine asketische Lebensweise mit gedünstetem Gemüse und ungesüßtem Tee. "So ein bisschen Fisch mach den Kohl doch nicht fett", habe die lebensfreudige Heidi Kabel nicht nur einmal gesagt und ihren Freund Jürgen zum heimlichen Mahl verführt. Dazu gehörten dann, na klar, Butterkartoffeln und Sahnesoße. Und Fisch will schwimmen ...

Den feinfühligen Couturier mochte sie auf Anhieb, verriet sie anderen Freunden: "Der kann zuhören und akzeptiert die Persönlichkeit einer Frau - ohne ihr nachzustellen." Aus anfänglicher Bekanntschaft wurde im Laufe der Jahre langsam eine enge und tiefe Freundschaft, von wahrhaftigem Vertrauen geprägt.

"Manchmal schüttete sie mir ihr Herz aus", verrät Hartmann. Gewaltige Sorgenbrocken indes habe es nur selten gegeben. Er beschreibt die Verstorbene als privat eher still und in sich gekehrt, mithin genau das Gegenteil der schnodderigen Sabbeltante auf der Bühne. Und Platt habe sie außerhalb des Theaters nur in Ausnahmefällen gesnackt.

Jürgen Hartmann geht es so wie vielen Hamburgern: Trauer ist vorhanden, keine Frage, doch positive Gedanken und schöne Erinnerungen überwiegen bei Weitem.

So wie bei Abendblatt-Leser Joachim Matthias: Der 43-jährige Altenpfleger aus St. Georg, ein gebürtiger Freiburger, zählt zu den größten Fans der unvergessenen Schauspielerin. Als Kind auf dem Sofa an der Seite seiner Großmutter war er erstmals auf die ebenso gewitzte wie schlagfertige Hanseatin mit der geblümten Schürze, dem Kopftuch und dem Feudel in der Hand aufmerksam geworden. Auf der Bühne sah der Süddeutsche sein norddeutsches Idol 1990 in "Ein Mann mit Charakter" im Ohnsorg-Theater. Während einer Tournee kam es später im Millowitsch-Theater in Köln zu einem persönlichen Gespräch.

Die Folge: Kaum jemand hat mehr Erinnerungsstücke an Heidi Kabel auf Lager als Herr Matthias: sämtliche LPs und Singles mit ihren Liedern, alle CDs, viele Videos und DVDs mit ihren Theater- und Fernseh-Krachern, eine Sammlung ihrer Koch- und anderen Bücher. Zweite Folge seiner Kabel-Verehrung: Der gebürtige Freiburger versteht mittlerweile sogar Plattdeutsch. Das meiste jedenfalls.

Nach dem Tod der Schauspielerin setzte er sich mit Jürgen Hartmann in Verbindung. Vielleicht wird in der Hansestadt ein Heidi-Kabel-Museum eingerichtet? Hartmann braucht es nicht. "Ich habe meine Heidi lebenslang im Herzen. Und darüber hinaus."

Heute, an diesem Spätsommertag, die dunklen Wolken des Friedhofsbesuchs zuvor sind längst verflogen, überwiegt Dankbarkeit. Der Kaffee ist ausgetrunken, am Seegerichtshof vorbei geht's runter zur Elbe. Am Ufer entlang führt der Weg nach Teufelsbrück. "Für Heidi war dieser Strom die Lebensader", sagt Jürgen Hartmann. "Oft stand sie hier, blickte auf das Wasser, sah die Schiffe und freute sich des Lebens."

Inbrünstig habe sie dann ausgerufen: "Hamburg, mein Hamburg, was bist du schön!" Am Ende aller irdischen Tage, so war es ihr ausgesprochener Wunsch, wolle sie in Elbnähe ewige Ruhe finden.

Dieser Wille ist geschehen.