Alle Pläne zur Rente mit 67 nützen nichts, wenn die Mehrheit lieber vorzeitig in Ruhestand gehen will. Der Wirtschafts- und Sozialforscher fordert ein Umdenken

Was bisher vor allem Bevölkerungswissenschaftlern und Arbeitsmarktexperten Sorgen macht, wird durch den unerwartet schnellen und deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung plötzlich offenkundig: Der demografische Wandel hat begonnen. Lehrstellen können nicht besetzt werden, der Facharbeitermangel nimmt zu. Und das ist erst der Anfang. Nach einer aktuellen Prognos-Studie werden dem Arbeitsmarkt schon 2015 fast drei Millionen Fachkräfte fehlen. Diese Lücke wird bis 2030 auf über fünf Millionen wachsen - wenn nicht gegengesteuert wird.

Hauptansätze, um die Arbeitsmarktlücke zu verringern, sind eine gezielte Zuwanderungspolitik, die Steigerung der generellen Bildungsbeteiligung, mehr erwerbstätige Frauen sowie nicht zuletzt eine deutliche Erhöhung der Erwerbsbeteiligung Älterer. Trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Jahren liegt der Anteil der 60- bis 64-Jährigen in Deutschland, die einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz haben, nur bei gut 20 Prozent. Vor allem Fach- und Führungskräfte werden künftig länger Verantwortung tragen müssen als bisher, um die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Unternehmen zu erhalten.

Ausgerechnet die Politik, der häufig eine kurzsichtige Fixierung auf Wahlperioden vorgeworfen wird, hat schon vor drei Jahren mit der stufenweisen Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahren einen ersten und langfristig orientierten Schritt getan, der die Erwerbsbeteiligung der Älteren steigern könnte. Darum ist jetzt wieder Streit entbrannt. Das Hauptargument der Gegner: Für Ältere ohne sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bedeutet ein höheres Rentenalter de facto eine Rentenkürzung. Also fordern Teile der SPD und selbst einzelne Vertreter der Regierungsparteien, das Rentenalter erst dann anzuheben, wenn mehr Ältere beschäftigt sind.

Damit geht der Schwarze Peter an die Arbeitgeber. Die sind kaum vorbereitet auf den Wandel. Doch wenn künftig der Nachwuchs fehlt, müssen die Betriebe ihre älter werdenden Beschäftigten länger halten. Die aber müssen physisch und psychisch die Anforderungen erfüllen können. Dafür müssen die Betriebe intensiver als bisher die Beschäftigungsfähigkeit fördern. Andere Länder sind da viel weiter. Vor allem in Skandinavien ist die Vorbereitung und Unterstützung der Arbeitnehmer für eine längere Lebensarbeitszeit selbstverständlich. Wichtigste Ansatzpunkte sind Qualifizierung und Weiterbildung, Gesundheitsförderung, altersgerechte Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten sowie Anreizsysteme für die Inanspruchnahme dieser Angebote.

Zweifellos müssen deutsche Betriebe mehr tun, damit ihre Beschäftigten länger im Beruf bleiben können. Doch diese müssen es auch wollen, und das ist mehrheitlich nicht der Fall. Empirische Untersuchungen belegen, dass die Mehrzahl der Beschäftigten in Deutschland deutlich früher als mit 65 in den Ruhestand gehen möchte und dies auch tut. Durch jahrzehntelange, von Arbeitgebern wie Gewerkschaften verfolgte, öffentlich geförderte Frühverrentung und Altersteilzeit ist in Deutschland eine "Kultur des früher Aufhörens" entstanden. Gerade Fach- und Führungskräfte wollen selbst bestimmen, wann sie in Rente gehen, und bereiten sich - auch finanziell - darauf vor. Dabei wollen die meisten nicht aus gesundheitlichen Gründen oder wegen schlechter Arbeitsbedingungen früher aufhören, sondern weil sie "etwas vom Ruhestand haben wollen".

So erscheint die Diskussion um die Rente mit 67 in einem anderen Licht. Langfristig geht kein Weg an der Verlängerung der Lebensarbeitszeit vorbei, wenn die gesetzliche Rente erhalten und der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung begegnet werden soll. Dafür müssen nicht nur die Unternehmen die Beschäftigung Älterer steigern. Die Gesellschaft als Ganzes muss ihre Einstellung verändern und zu einer Kultur finden, in der jeder - im Rahmen seiner Möglichkeiten - länger arbeiten kann und will. Der politische Ansatz, das Rentenalter schrittweise anzuheben, unterstützt eine solche Kultur. Diesen Ansatz infrage zu stellen, wäre ein Rückfall in die Kurzsichtpolitik und würde die unausweichlichen Veränderungen schwieriger und teurer machen.

Dr. Christoph von Rothkirch, 65, ist seit 30 Jahren in der Politik- und Unternehmensberatung tätig mit Büros in Düsseldorf und Hamburg.