Die Ereignisse sind wie ausradiert. Gelöscht aus seinem Gedächtnis. Ein Filmriss, der nicht zu kleben ist. Philipp H. erkennt den Mann, über den er in der Akte liest, nicht wieder. Vollkommen fremd wirkt er, unheimlich sogar. Soll das wirklich er selbst gewesen sein, der diese bizarre Tat begangen hat? Der Mann, der sich eines Nachts vollkommen grundlos auf zwei junge Frauen stürzte, sie angriff und umklammerte? Der eine von ihnen sogar würgte, bis sie Atemnot erlitt? Den 25-Jährigen graust es bei dem Gedanken, dass er so etwas getan haben könnte. Unfassbar. Aber ganz offensichtlich wahr.

Jetzt, knapp drei Monate nach der Tat vom 30. Mai dieses Jahres, wirkt Philipp H. immer noch fassungslos. Die Arme wie in Schutzhaltung verschränkt, sitzt der dunkelhaarige Student im Verhandlungssaal dem Amtsrichter gegenüber und sucht nach Worten für etwas, für das er keine Erklärung weiß. Die Tat müsse sich wohl so zugetragen haben, wie es in der Anklage steht, in der ihm Körperverletzung und Nötigung vorgeworfen werden, räumt Philipp H. ein. Laut Staatsanwaltschaft hat sich der 25-Jährige gegen drei Uhr morgens an einem S-Bahnhof plötzlich auf eine 18-Jährige gestürzt, sie umklammert, dann ihre gleichaltrige Freundin angegriffen und sich schließlich wieder auf das erste Opfer geworfen und es mit dessen Halstuch gewürgt. "Ich gehe davon aus, dass es so war", sagt der Angeklagte mit matter Stimme. Er habe an jenem Abend auf einer Geburtstagsfeier zunächst Bier und dann Wodka mit Red Bull getrunken, später auch noch Kurze. "Ab Mitternacht habe ich keine Erinnerung mehr."

Der Filmriss scheint nicht überraschend: Schließlich hatte Philipp H. zur Tatzeit rund 2,4 Promille. Auch Spuren von Cannabis wurden bei dem 25-Jährigen festgestellt. Ein Rauschmittel, das "Antriebsminderung und Gelassenheit" zur Folge haben soll. Doch davon konnte bei dem Mann nun wahrlich keine Rede sein. Auf der Wache mussten ihm Polizisten laut Akte "Hand- und Fußfesseln anlegen, weil er immer wieder gegen die Tür der Zelle sprang". Auch der Angeklagte selbst fand sein Verhalten höchst untypisch und merkwürdig. Einen Filmriss habe er noch nie zuvor gehabt. Deshalb vermute er, dass ihm auch K.-o.-Tropfen verabreicht worden sein könnten. Doch darauf ergab sich aus der Blutuntersuchung keinerlei Hinweis. Zudem, erklärt eine Sachverständige im Prozess, sei die Folge von K.-o.-Tropfen Bewusstlosigkeit, nicht Aggressivität.

Vergessen können, die Ereignisse jener Nacht zumindest weichzeichnen, verschwimmen zu lassen - dafür wären die Opfer von Philipp H. wohl eher dankbar. Doch die Geschehnisse haben sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Noch immer ist Nina ratlos, wenn sie an den Angriff denkt. Fassungslos. Und auch verängstigt. "Diese riesengroßen Augen, aus denen der Mann mich angestarrt hat", erinnert sich die Zeugin, sein irritierendes Schweigen, sein sinnloses Tun. Ein Angriff aus heiterem Himmel, ganz sicher, aber warum, das weiß Nina bis heute nicht. "Ich hatte den Eindruck, dass er Drogen genommen hat", sagt die 18-Jährige über den Angeklagten. "Er hat nichts gesagt, mich nicht sexuell bedrängt, nichts zu rauben versucht", erzählt die Schülerin. "Keine Ahnung, was er wollte, ich habe das überhaupt nicht verstanden."

Als er sie mit ihrem Halstuch an eine Wand drückte und damit würgte, "habe ich kaum Luft bekommen". Ihre Freundin habe versucht, an ihr Pfefferspray zu gelangen, da sei Philipp H. auf die Freundin losgegangen, habe dann aber wieder sie, sein erstes Opfer, angegriffen. "Dann kamen glücklicherweise Jugendliche. Ich rief: 'Helft uns doch, macht irgendwas!'" Die Jugendlichen konnten den Angreifer zunächst von seinen Opfern wegzerren, doch er riss sich los und lief wieder auf Nina und deren Freundin zu. "Da habe ich richtig Angst empfunden", erzählt die Zeugin. "Also wie im schlechten Horrorfilm", fasst der Verteidiger zusammen. Und der Staatsanwalt nennt es ein "extrem schockierendes Erlebnis" für die Opfer.

Doch der Amtsrichter lässt Milde für den nicht vorbestraften Angeklagten walten. Sein Urteil: Philipp H. wird verwarnt, eine Verurteilung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu zehn Euro wird vorbehalten. Sie muss Philipp H. nur dann zahlen, wenn er bestimmte Auflagen nicht erfüllt, insbesondere nicht das Schmerzensgeld von insgesamt 400 Euro an die Opfer zahlt, das der Richter mit dem Urteil festlegt. Das Handeln des Angeklagten sei "auffällig sinnlos und so dumm gewesen, dass kein planerisches Agieren dahinterstehen kann". Daraus sei zu schließen, dass die Steuerungsfähigkeit des 25-Jährigen durch berauschende Mittel eingeschränkt war. "Ich glaube nicht, dass man die Strafe vollstrecken muss", findet der Richter. Doch eines müsse Philipp H. beachten: Die Sachverständige habe gemeint, er sei "vulnerabel", also extrem empfänglich für die Wirkung von Drogen. "Und Ihre Psyche ist offenbar nicht so stabil." Es sei wirklich besser, wenn er den Konsum von Alkohol und Drogen sein lasse. Philipp H. nickt ergeben. Was geschehen sei, sagt er leise, "tut mir wirklich sehr leid".