Es sind nicht die großen Fälle, die Bettina Mittelacher in ihrer neuen Kolumne beschreibt. Es geht um spannende Geschichten vorm Amtsgericht.

Hamburg. Die Situation wirkte wie einer Actionszene aus Hollywood entnommen - und hatte doch bedrohliche Realität. Plötzlich blickten Sandra S. und Michael K. in eine Pistolenmündung. Bei den beiden Autofahrern sitzt der Schreck über diese Aggression im Straßenverkehr noch tief. Vorausgegangen waren ein etwas unglückliches Ausschermanöver, eine heftige Bremsung, danach ein paar gegenseitige Beschimpfungen und uncharmante Gesten. Und dann diese Eskalation, das Entsetzen über die Waffe, die auf sie zielte, die Furcht vor einem Schuss. "Wir sind sofort abgebogen und haben die Polizei alarmiert", erzählen die beiden Hamburger als Zeugen vor dem Amtsgericht. "Wir hatten Angst, weiterzufahren und an der nächsten roten Ampel vielleicht neben dem Mann zu stehen. Wer weiß, was dann noch passiert wäre."

Nichts, beteuert Robert M., jener Mann, der die Waffe auf sie richtete. Alles ein Versehen, alles nicht so schlimm. Er - ein Verkehrsrowdy? Aggressiv? Der Pistolen-Mann würde eine derartige Etikettierung sicherlich weit von sich weisen. Der 48-Jährige, ein schlanker, bärtiger Typ, schwadroniert lieber vollmundig über seine Tugenden im Straßenverkehr, gibt sich als der routinierte, defensive Autofahrer, geradezu vorbildhaft. Seit 30 Jahren im Besitz eines Führerscheins, 300 000 Kilometer pro Jahr, die er fährt. Und dabei nur zwei Einträge in der Flensburger Verkehrssünderkartei, ganz kleine nur. Und die Waffe sei doch nur eine Schreckschusspistole, die er seit vielen Jahren besitze. Ganz legal natürlich.

Doch damit anderen Verkehrsteilnehmern zu drohen, ist wahrlich kein Bestandteil üblicher Streitkultur, sondern ein Fall für das Amtsgericht. Eine Tat, die wegen des Grades der Eskalation aus dem Rahmen zu fallen scheint. Beängstigend, aber eben doch ein Einzelfall? Mitnichten. Aggression und Gewalt im Straßenverkehr sind fast schon typische Phänomene geworden. Hier sieht die Hamburger Staatsanwaltschaft eine deutliche Tendenz einer Zunahme. Immer mehr entsprechende Anzeigen gehen ein - nicht nur wegen Nötigung, beispielsweise durch grundloses gefährliches Ausbremsen, weil man sich über das Fahrverhalten eines anderen geärgert hat, Bedrohung ("Ich mach dich kalt"), und Beleidigung, sondern auch wegen Körperverletzung. "Es wird sehr viel Aggression im Straßenverkehr ausgelebt", beklagt auch der Hamburger Kriminologe und Aggressionsforscher Jens Weidner. "Autos gelten oft als Ausdruck von Macht und Status. Und die Straße ist sozusagen der letzte Ausdruck freier Wildbahn. Je schlechter man vorankommt, je größer die Verkehrsdichte, je enger der Platz, desto stärker und aggressiver läuft der Kampf um ein kleines Terrain." Es handele sich hierbei um "Frustrationsaggression".

Eine Einschätzung, mit der Robert M. kaum einverstanden wäre. Er habe die Schreckschusspistole nicht aus Aggressivität, sondern "im Affekt" gezogen, behauptet er. "Ich habe die Waffe legal erworben", er nutze sie für die Ausbildung von Wach- und Polizeihunden. Zu jener Zeit habe sie in der Mittelkonsole seines Wagens gelegen. "Die Situation ist ganz einfach eskaliert", meint Robert M., weil die beiden Leute in dem anderen Auto ihn beschimpft und mit Gesten Angst gemacht hätten. "Das Ziehen der Waffe war keineswegs als Bedrohung gedacht, sondern als Verteidigung", sagt der 48-Jährige. "Warum hätte ich ihnen auch drohen sollen?", sagt er treuherzig und bietet als Erklärung an: "Ich dachte, dass jeder weiß, dass man eine Waffe nicht direkt hinter eine Scheibe abfeuert. Heute weiß ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich werde die Waffe in Zukunft nicht mehr im Auto bei mir führen. Es tut mir sehr leid, was ich getan habe."

"Sie haben gehört, wie schlimm es für die Opfer war, dass Sie die Waffe gezeigt haben", redet ihm die Amtsrichterin ins Gewissen. "So geht es wirklich nicht. Aber Sie haben eine gewisse Einsicht offenbart." Deshalb seien Staatsanwaltschaft und Gericht bereit, den Fall mit einer Einstellung gegen eine Geldbuße zu beenden. 300 Euro soll Robert M. zahlen. "Das ist ganz schön hart", grummelt der. "Aber was Sie gemacht haben", kontert die Richterin sofort, "das war auch ganz schön hart."