Es sind ebenso kuriose wie spannende Fälle, die Bettina Mittelacher in ihrer Gerichtskolumne beschreibt. Es geht um kaum beachtete, aber interessante Prozesse vor dem Amts- und Landgericht.

Eine Last schien sie niederzudrücken. Alle Lebensfreude aus ihr zu vertreiben. Jedes zaghaftes Lächeln wirkte wie ein Kraftakt, jedes Wort kostete das Mädchen offenbar Überwindung. Irgendetwas quälte Judith (Name geändert), das spürte ihre Lehrerin deutlich. Und als sie die Schülerin ansprach und fragte, was sie so bedrückt, zögerte die Zwölfjährige. Um dann nur so viel preiszugeben: "Ja, da ist was. Aber ich kann es nicht sagen, weil das meine Familie zerstören würde."

Judith hatte recht. Heute ist ihre Familie zerstört. Die Eltern geschieden, der Kontakt zum Vater gekappt. Doch das Mädchen ist nicht etwa Täterin, sondern Opfer. Ein Opfer, das lange geschwiegen hat aus Angst, jemandem wehzutun. Obwohl Judith doch selber verletzt worden war. Verletzt an ihrer Seele, verstört in ihrem Urvertrauen. Doch irgendwann konnte sie die Last nicht mehr ertragen und vertraute sich ihrer Mutter an. Ihr Vater habe sie angefasst, erzählte sie. Da, wo sie es nicht wollte. Ihr Papa, der sie "meine Prinzessin" nannte, seine Lieblingstochter. Jener Mann, der sich jetzt wegen sexuellen Missbrauchs an Judith vor dem Landgericht verantworten muss. Und der wegen mehrfacher Vergewaltigung seiner damals 16-jährigen Tochter Anke (Name geändert) bereits rechtskräftig zu drei Jahren Haft verurteilt worden ist und seine Strafe im Gefängnis verbüßt.

Die Taten hatte Hans-Jürgen H. bis zuletzt bestritten. So wie der 52-Jährige nun im Prozess auch die neuen Vorwürfe bestreitet. Der jetzt vorgeworfene Missbrauch an Judith hat laut Anklage während einer Fahrt in dem Lkw des Berufskraftfahrers stattgefunden. Er soll sie auf einem Rastplatz gedrängt haben, sich auszuziehen, und sie dann an Brust und im Intimbereich berührt haben. Doch der Angeklagte bestreitet, sexuelle Handlungen an Judith vorgenommen zu haben. Er habe seine Tochter, die stark geschwitzt habe, mit Mineralwasser abgerieben. "Ich habe ihr nie gesagt, sie solle ihre Unterhose ausziehen."

Das Mädchen habe "aus einer völlig harmlosen Begebenheit eine Missbrauchsgeschichte gemacht", erklärt der Angeklagte, ein Mann mit hagerer Statur und kantigem Gesicht. "Ich bin nicht pädophil veranlagt." Er habe im Gegenteil eine "recht glückliche Ehe geführt". Doch sein Leben sei jetzt "ein Albtraum. Ich leide in der Haft, habe mehrfach versucht, Selbstmord zu begehen. Ich habe keinen Kontakt mehr zu meiner Familie, sie ist auseinandergebrochen." Doch so sehr Hans-Jürgen H. jetzt darauf beharrt, alles sei ganz harmlos gewesen, hatte er die Taten früher in Briefen selber zugegeben: "Dass ich dich da unten berührt habe, war sehr dumm von Papa", schrieb er an seine Tochter. Und: "... dabei habe ich den Fehler gemacht und Brüste und Scheide mit abgerieben."

Elf oder zwölf Jahre alt war Judith damals. Lange habe sie versucht, das Erlebte zu verdrängen, erzählte die heute 13-Jährige bei einer Vernehmung, die auf Video aufgenommen wurde. Doch als ihre ältere Schwester erzählt habe, dass der Vater sie mehrfach im Keller missbraucht habe und er wegen dieser Taten vor dem Landgericht zu der dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde, "da kam das alles wieder hoch. Deshalb habe sie sich dann auch ihrer Mutter anvertraut. Ehefrau und Tochter, die bis dahin zu Hans-Jürgen H. gehalten hatten, wollten ihn nunmehr aus der Wohnung haben. "Ich möchte, dass er ins Gefängnis kommt und darüber nachdenkt, was er mit mir gemacht hat", sagt Judith bei ihrer Vernehmung. Auch als Zeugin vor Gericht schildert die Schülerin die Taten. Der Angeklagte ist zu diesem Zeitpunkt nicht mit im Verhandlungssaal. Er wird laut Beschluss des Gerichts für die Dauer ihrer Vernehmung von dem Prozess ausgeschlossen, weil er sich geweigert hatte, sich aus Rücksicht auf seine Tochter so hinzusetzen, dass er sich nicht mehr in ihrem Blickfeld befindet. Auch nach ihrer Aussage beharrt Hans-Jürgen H. darauf, dass er sich an dem Mädchen nicht vergangen habe. "Das Monster, als das ich hier dargestellt werde, bin ich nicht. Ich hab das nicht gemacht", sagt der 52-Jährige unter Tränen.

Doch das Gericht glaubt ihm nicht. Es glaubt, was Hans-Jürgen H. in seinen Briefen selber gestanden hat. Und vor allem glaubt es Judiths Aussagen bei der Polizei und im Prozess. "Wir bedauern, dass Sie in diesem Prozess nicht die Chance genutzt haben, um mit sich ins Reine zu kommen", sagt der Vorsitzende Richter, dessen Kammer den Angeklagten zu einem Jahr und vier Monaten Haft verurteilt.

Aus dieser Strafe und dem vorangegangenen Urteil für den Missbrauch an Judiths Schwester wird eine Gesamtstrafe von drei Jahren und neun Monaten gebildet. Hans-Jürgen H. habe auch die Chance nicht ergriffen, mit seiner Tochter "einen gewissen Frieden zu schließen. Sie war bereit, wieder auf Sie zuzugehen", betont der Richter. Der Missbrauch sei für Judith "eine Sache, die sie lange mit sich herumgetragen hat. Sie hat es über ein Jahr für sich behalten. Sie mochte Sie, gerade deshalb hat sie so lange geschwiegen. Sie wollte nicht, dass die Familie zerbricht."