Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt über den kuriosesten und spannendsten Fall der Woche.
Sie sind Fußballfans mit Leib und Seele. Sie jubeln beide für den HSV, sind bei jedem Heimspiel im Stadion, haben Dauerkarten für denselben Block und sitzen nur wenige Meter getrennt. Und doch sind sie meilenweit davon entfernt, Brüder im Geiste zu sein. Der eine brüllt seine Begeisterung heraus, macht Stimmung bis zur letzten Minute - auch wenn der Verein seines Herzens mal schwächelt. Der andere sieht nicht ein, warum er sich auf der Tribüne verausgaben soll, "wenn die Mannschaft keine Leistung bringt". Ein eingespieltes Team im Fan-Block sieht anders aus.
Und doch sind sich Dirk G. und Marko G. eines Tages nach einem Heimspiel des HSV ganz nah gekommen - zu nah. Als ihr Verein am 1. März vergangenen Jahres mit einem mageren 1:3 gegen Wolfsburg patzte, folgte erst ein Wortgefecht der beiden Männer auf dem Rang. Und dann offenbar ein dickes Foul: Gleich zweimal soll Dirk G. seinen Kontrahenten mit der Faust gegen den Kiefer geschlagen haben. Deshalb sitzt der 24-Jährige jetzt wegen Körperverletzung auf der Anklagebank vor dem Amtsgericht, gleichsam die Rote Karte für den Fan.
Etwas hölzern wirkt der junge vollbärtige Mann, wie er jetzt mit sehr geradem Rücken dasitzt, die Miene nahezu unbewegt, die Stimme wenig moduliert. Der Mann, den er geschlagen haben soll, so der gelernte Handwerker, habe "die ganze Zeit aggressive Stimmung verbreitet und Leute im Block niedergemacht", wenn die nach seiner Auffassung nicht genug gejubelt hätten. "Was ist denn das für ein Mist-Block hier! Keiner macht mit", habe Marko G. etwa gesagt. Er selber, betont der Angeklagte, sei der Ansicht, dass die Mannschaft sich ihren Applaus auch redlich verdienen müsse.
Als er den anderen auf die seiner Meinung nach unangebrachte Schelte des Blocks angesprochen habe, sei dieser weniger als eine Armlänge an ihn herangerückt, sodass er einen Schlag befürchtet habe. "Da habe ich in einer Schutzfunktion beide Arme hochgerissen. Dabei habe ich wohl seinen Unterkiefer berührt." Es sei "ein Reflex" gewesen, verteidigt er sich. "Ein ziemlich zielgerichteter Reflex", kommentiert der Amtsrichter trocken.
Und offenbar ein wirkungsvoller. Wegen einer Kieferprellung habe er zwei Wochen lang starke Schmerzen gehabt, erzählt Marko G. als Zeuge im Prozess. Zugegeben, er sei schon ein eher "lauter Mann", sagt der 36-Jährige, und schreie seine Begeisterung für den HSV auch gern heraus. "Wir hatten das Spiel verloren", formuliert er, gefühlsmäßig ganz Mitglied des Teams. Der Angeklagte habe irgendwas gerufen wie "Millionärstruppe" oder "Strengt euch mal an!" Und er selber habe sicher mal "Unterstützt doch mal die Mannschaft" geschrien oder: "Jetzt alle!", sagt er auf Nachfrage des Richters. Er könne aber nicht verstehen, dass das zum Streit führen könne.
Es habe damals zuerst ein Wortgefecht gegeben. "Dann kam ein Faustschlag, der hat mich nach hinten geworfen. Und kurz darauf ein zweiter Faustschlag." Dass der Angeklagte eine vermeintliche Notwehrsituation angenommen haben will, sei für ihn "nicht nachvollziehbar. Ich halte das schlicht für eine Lüge." Ein Zeuge formuliert es ähnlich deutlich: "Der Angeklagte schlug aus einer Situation heraus, die ich feige nennen würde." Und ein Bekannter des Opfers erinnert "zwei gezielte, sehr starke Schläge. Wenn ich Marko nicht gestützt hätte, wäre er wohl gefallen."
Der Vater des Angeklagten schlägt sich indes mehr auf dessen Seite. Er habe sich zunächst während des heftigen Wortgefechts zwischen die beiden Kontrahenten gestellt, um zu schlichten, sagt der 54-Jährige, der bei HSV-Spielen regelmäßig in der ersten Reihe sitzt. Dann habe Marko G. sich "richtig aufgebaut", sagt er. "Der wollte sich prügeln. Da hat mein Sohn ihm nur leicht, wie man beim Boxen sagt, eine gewischt."
Doch Staatsanwältin und Richter glauben nicht an einen Verteidigungsreflex, sondern halten "die Schilderung des gezielten Angriffs für glaubhaft", sagt der Richter und verhängt eine Geldstrafe von 1500 Euro gegen Dirk G. Strafschärfend sei, dass der Angeklagte gleich zweimal zugehauen habe, nach dem Motto: "Doppelt hält besser".
Dirk G. verlässt mit gepresstem Mund den Saal, der ganze Mann angespannt und gleichsam auf kleiner Flamme kochend. Sein Vater dagegen explodiert: "Das ist ein Hohn, was sich hier abspielt", schäumt er und schickt an die Adresse des Richters hinterher: "Nach Ihrer Einschätzung sind alle Fußballfans Verbrecher!" Die Staatsanwältin blickt ihn prüfend an und warnt eindringlich: "Vorsicht!" Es klingt wie eine verbale Gelb-Rote Karte.
Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt über den kuriosesten und spannendsten Fall der Woche.