Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt über den kuriosesten und spannendsten Fall der Woche.

Er hatte sich eine kleine Atempause erhofft. Ein wenig Erleichterung von seinen erdrückenden Geldsorgen. Doch was als verzweifelter, winziger Befreiungsschlag gedacht war, machte das persönliche Fiasko erst komplett. Das Gewissen plagte, die Selbstvorwürfe. Ja, er war jetzt ein Verbrecher, ein Gewalttäter, an seinem "absoluten Tiefpunkt", wie Andreas R. mit wachsendem Entsetzen über sich selbst erkannte. "Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mein Leben neu starten muss", sagt der 42-Jährige heute. Als Szenario für seinen Neubeginn wählte er die nächste Polizeiwache, wo er seinen Personalausweis auf den Tresen legte und den Beamten mit leiser Stimme eröffnete: "Ich werde gesucht. Das mit dem Schlecker-Markt letzte Woche war ich."

Jetzt im Prozess vor dem Landgericht, wo sich der gelernte Kfz-Mechaniker für die Tat vom 21. April dieses Jahres wegen schweren Raubes verantworten muss, wiederholt Andreas R. sein Geständnis. Wie er an jenem Nachmittag in dem Drogeriemarkt eine Kassiererin mit einem Gemüsemesser bedrohte. Wie er rund 240 Euro erbeutete und floh. Diesmal jedoch redet er nicht zaghaft und leise wie damals bei der Polizei, sondern mit fester Stimme, entschlossen, gelöst geradezu. Entspannt wirkt der kräftige Hamburger mit dem grau melierten Haar, ein Mann, der überzeugt ist, gerade das Richtige zu tun. Mit allen Konsequenzen.

Er sei mittellos und verzweifelt gewesen, begründet der arbeitslose Mann seinen Raubüberfall. Seine Freundin habe ihm wenige Wochen zuvor per SMS mitgeteilt, "dass Schluss ist", und seine Sachen vor die Tür gestellt. Deshalb habe ihn ein Schreiben der Arbeitsagentur nicht erreicht, und deshalb habe er ein Vermittlungsgespräch verpasst. "Daraufhin wurden alle Zahlungen von Arbeitslosengeld eingestellt." Ein paar Tage habe er noch in einem günstigen Hotel übernachtet, sei dann aber schließlich obdachlos gewesen. "Ich hatte keinen Cent mehr. Da habe ich überlegt: Wie komme ich zu Geld?" Schließlich habe er in dem Schlecker-Markt beschlossen: "Ich mach das einfach. Eine Kurzschlusshandlung."

Im Laden habe er aus dem Regal ein Gemüsemesser geholt, an der Kasse aus seiner Hülle genommen und die Kassiererin gefragt, ob sie schon mal überfallen worden sei. Als sie sagte, sie habe das einmal erlebt, habe er formuliert: "Das ist jetzt das zweite Mal." Er habe das Geld genommen. "Und dann habe ich gesagt, dass sie am besten nicht sofort die Polizei rufen soll, denn sonst komme ich zurück und steche sie ab."

Diese massive Drohung sei "sein großer Fehler" gewesen, bedauert er. Über die Höhe der Beute habe er sich keine Gedanken gemacht. "Es ging mir nur darum, mein Hotelzimmer zu zahlen. Doch dann hatte ich Gewissensbisse und konnte nicht mehr schlafen. Ich habe mir vorgestellt, wie es der Kassiererin jetzt geht, wie es mir in der Situation gehen würde. Schließlich sah ich nur noch eine Möglichkeit: mich zu stellen." Ein Geständnis wegen eines schlechten Gewissens "erleben wir hier vor Gericht so gut wie nie", stellt der Kammervorsitzende fest. Vielleicht wäre Andreas R. ohne seine Offenbarung bei der Polizei nie gefasst worden. Videoaufzeichnungen der Tat gab es nicht, und als nicht vorbestrafter Mann war der 42-Jährige in keiner Verbrecherkartei.

Wäre er es gewesen, hätte die Kassiererin ihn vermutlich identifizieren können. Lange genug hatte sie ihm beim Überfall direkt ins Gesicht geblickt, das Messer in seiner Hand gesehen und seine Drohung mit anhören müssen, er könne sie abstechen. Ein erschütterndes Erlebnis, ein Albtraum, den manches Opfer nie wirklich verwindet. Doch Petra S. wirkt erstaunlich gefasst. Ob sie möglicherweise an Panikattacken leide oder unter Schlafstörungen, möchte der Vorsitzende Richter von der Zeugin wissen. "Quatsch", wehrt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Sie habe allenfalls in den ersten Tagen nach dem Überfall "ein etwas mulmiges Gefühl" bei ihrer Arbeit gehabt. Und mit dem Messer hätte er sie nicht erwischt, "dafür stand ich zu weit weg. Ich kann mich nicht verkriechen, das Leben geht weiter", stellt sie lakonisch fest. Doch für den Angeklagten ist der glimpfliche Ausgang des Verbrechens noch nicht genug. "Es tut mir wahnsinnig leid, was ich Ihnen angetan habe", sagt er.

Dann geht er zurück in die Untersuchungshaft. In der kommenden Woche, bei der Urteilsverkündung, wird er erfahren, wie lange diese Unfreiheit andauert. In seinem Gesicht spiegelt sich der Hauch eines Lächelns. Der Mann ist zufrieden über den Neuanfang. Auch wenn das im Gefängnis sein musste.