Mithilfe des Kinder- und Familienzentrums fuhren jetzt 100 Mädchen und Jungen aus Schnelsen-Süd in den Hansa-Park nach Sierksdorf.

Schnelsen. Hauptbahnhof, Gleis 7, morgens um viertel vor neun. Kinderlachen schallt über den Bahnsteig. Rund 100 Mädchen und Jungen können es kaum abwarten, loszufahren. Aufzubrechen zum Hansa-Park in Sierksdorf.

Besmir, ein zierlicher Junge mit raspelkurzem Haar, hält Ausschau nach dem Zug. Voller Vorfreude hüpft er von einem Bein aufs andere. Die Erwachsenen, bepackt mit Rucksäcken und Kühltaschen, schaukeln Kinderwagen. Plaudern, scherzen. Andere Fahrgäste beäugen die Menschentraube irritiert. Die Teilnehmer des vom Kinder- und Familienzentrums (KiFaZ) organisierten Ausflugs bekommen das nicht mit. Aufgeregt plappern Groß und Klein über die Karussells, die sie im Erlebnispark erwarten, während sie in den Zug nach Lübeck einsteigen.

In den Urlaub fahren der zehn Jahre alte Besmir und seine beiden Geschwister dieses Jahr nicht. Sie bleiben zu Hause in Schnelsen-Süd. In einer 70er-Jahre-Sozialbau-Siedlung mit grauen Hochhäusern, in der das Einkommen der Bewohner niedrig und der Zusammenhalt groß ist. Für Reisen haben seine Eltern kein Geld. Aber einen Tag, den verbringt Besmir mit der ganzen Familie und vielen Nachbarn aus seinem Viertel im Hansa-Park an der Ostsee. Es ist Urlaub für einen Tag. Knapp 100 Kilometer entfernt von Hamburg. Eine Distanz, die ausreicht, um Alltag und Sorgen für ein paar Stunden zu vergessen. Die lassen die albanischen, türkischen, deutschen, afghanischen, afrikanischen und persischen Familien an diesem Tag am Hauptbahnhof zurück. Schon am Abend werden sie wieder zurück sein. Zurück in der tristen Hochhaussiedlung.

Seit 2001 ermöglicht das KiFaZ Bewohnern aus Schnelsen-Süd, für einen geringen Preis den Hansa-Park zu besuchen. "So können beispielsweise auch Familien mit sechs Kindern mitfahren. Die Anmeldeliste für die knapp 200 Plätze ist immer innerhalb kürzester Zeit voll", sagt Ulla Kutter, Leiterin des KiFaZ in Schnelsen-Süd. "Für Familien, die nicht in den Urlaub fahren können, ist dieser Ausflug sehr wichtig." Die Eltern können ihren Kindern etwas bieten, ohne zu tief in die Tasche greifen zu müssen. Zum Beispiel bezahlen Eltern mit zwei Kindern für den Tag im Vergnügungspark inklusive der Zugfahrt statt 130 nur 44 Euro. Um die restliche Summe finanzieren zu können, beantragt das KiFaZ Geld beim Finanzkreis des Stadtteilbüros.

"Ziel des Ausflugs ist es, dass die Menschen aus dem Viertel ins Gespräch kommen. Mal abschalten können und 'problemfrei' haben", sagt Ulla Kutter. Denn die Lebenswirklichkeit sieht bei den meisten anders aus. Die 49-jährige Sozialberaterin weiß das. Im KiFaZ steht sie den Menschen aus Schnelsen-Süd zur Seite, berät und hilft. "Das Geld der Familien ist oft knapp", sagt Kutter. "Ich gehe in den Supermarkt und kaufe mir das, worauf ich Appetit habe." Viele Familien aber müssten die Prospekte der Discounter vergleichen. Dass sie mit dem Geld gut haushalten müssen, geben jedoch nur die wenigsten zu. "Sie wollen nicht, dass ihre Kinder womöglich als arm angesehen werden", sagt Kutter. "Sie wollen ihrem Nachwuchs etwas bieten." Etwa einen Tag im Hansa-Park. "Für die Kinder ist die Tour ein Höhepunkt in den Ferien."

Dena Afridi, 16, hat bisher jede Fahrt in den Hansa-Park mitgemacht. "Weil es lustig ist, mit so vielen Menschen aus dem Stadtteil etwas zu unternehmen. Und weil wir kein Geld haben, um immer zu verreisen", sagt die Schülerin. Es sei wie ein riesiger Familienausflug.

Kurz vor zehn. Der Zug rollt im Lübecker Bahnhof ein. Nur ein paar Minuten bleiben der Reisegruppe zum Umsteigen. Jeder packt mit an, achtet darauf, dass niemand verloren geht. Die Kleinen werden an die Hand genommen, Kinderwagen und die mit Proviant voll gepackten Taschen mit vereinten Kräften von einem Bahnsteig auf den anderen gehievt. "Bei uns ist auch im Alltag jeder für den anderen da", sagt Dena. Sie klingt stolz. Stolz auf ihre Siedlung und die Menschen, die dort leben. "Viele haben dort nicht so viel Geld. Aber dafür schäme ich mich nicht. Ich liebe meine Straße", sagt sie. Und tatsächlich klingt es wie eine Liebeserklärung. Wegziehen will sie dort später nicht. Aber mal herauszukommen, etwas anderes zu erleben, das gefalle ihr.

Nach einer knapp einstündigen Fahrt hat die Gruppe ihr Ziel fast erreicht. Das letzte Stück laufen die Ausflügler zu Fuß. Wie eine Karawane ziehen sie Richtung Eingang. Drei Mädchen im Teenageralter schlendern kichernd hinter ihren Eltern her. Ein paar Jungs necken sie und ziehen an ihren Zöpfen. Die Stimmung ist gelöst. Besmir und seine Kumpels spekulieren wild gestikulierend, welche Karussells wohl die besten sind. "Die Wildwasserbahn ist bestimmt voll krass", sagt ein Junge mit Käppi auf dem Kopf.

Am Ziel angekommen strömen die Familien in alle Himmelsrichtungen.

Fatmir Sulejmani, der Vater von Besmir, steuert mit Frau und Kindern sowie der siebenköpfigen Familie seines Bruders als Erstes die Wildwasserbahn an. Aufgeregt rennen die Mädchen und Jungen zu den Booten. Sie kreischen und juchzen, als das Gefährt den steilen Wasserlauf hinunter braust und das Nass in die Höhe spritzt. Seine Kinder so unbeschwert und fröhlich zu sehen, macht Fatmir Sulejmani glücklich. Er kommt aus Albanien. Wirkt lebenslustig und durchtrainiert. Er ist sozialpädagogischer Assistent. "Aber zurzeit bin ich arbeitssuchend", sagt er. Reden möchte er darüber nicht.

Ohne die Unterstützung des KiFaZ hätte der 35-Jährige nicht mit seiner Familie in den Hansa-Park fahren können. "Das wäre finanziell nicht drin gewesen", sagt er. "80 Prozent derer, die an dem Ausflug teilnehmen, könnten sich die normalen Eintrittspreise wohl nicht leisten."

Für den Familienvater Fatmir Sulejmani ist es etwas Besonderes, den Tag in dieser bunten Welt zu verbringen, in der die Besucher von fröhlicher Dudelmusik eingelullt werden und spektakuläre Fahrgeschäfte einen Adrenalin-Kick nach dem anderen versprechen. Es ist eine künstliche, aber heile Welt. Es ist Urlaub. Nur ohne badewannenwarmes Mittelmeer, Kokosnuss-Palmen oder feinsten Sandstrand. "Meine Kinder sollen was erleben in den Ferien", sagt er. Das ist ihm wichtig. Dass sie darunter leiden, wenn das Geld mal knapper ist, will er nicht. "Es ist ein echtes Glücksgefühl, die leuchtenden Augen meiner Kinder zu sehen." Der Anblick seines Sohnes Besmir und der anderen Sprösslinge, die gerade johlend im "Fliegenden Hai" Überkopfrunden drehen, rührt den Albaner. "Wenn sie später als Erwachsene an ihre Kindheit zurückdenken, hoffe ich, dass sie sich an den heutigen Tag erinnern werden."

Mit einem Strahlen im Gesicht kommt Besmir auf seinen Vater zu. Die Fahrt mit dem "Fliegenden Hai" lässt ihn ein wenig wanken. "Das war total super", ruft er ihm auf halbem Weg entgegen. Auf dem Dom auf dem Heiligengeistfeld müsste sich Besmir vermutlich mit einer Fahrt begnügen. "Das geht nicht. Es ist zu teuer." Heute muss keiner der Eltern diese Sätze aussprechen. Die Kinder und Jugendlichen können so oft Karussell fahren, wie sie wollen. "Das ist cool", schwärmt Besmir. "Und wir sind alle zusammen hier." Mit alle meint er seine Familie. Und die anderen Heranwachsenden aus seinem Viertel. Mit einigen flitzt Besmir jetzt zum nächsten Fahrgeschäft. Vor ihm sitzen drei etwa elfjährige Jungs in Polo-Shirts und schicken Jeans, die er nicht kennt. Ihre Begeisterung können sie trotzdem miteinander teilen - dafür müssen sie nicht den Namen des anderen kennen.

Hier im Erlebnispark sind alle gleich. Soziale Unterschiede verschwimmen zwischen den bunt blinkenden Karussells und den auf Vergnügen gepolten Familien. Allein der Spaß vermag es hier, Menschen zu verbinden. Nur dass es für die einen ein x-beliebiger Ausflug ist, für die anderen der schönste Tag in den Sommerferien. Ulla Kutter weiß das. Genau deshalb setzt sie sich jedes Jahr erneut für die Fahrt in den Hansa-Park ein. "Wegen der Finanzierung ist das Projekt jedes Jahr in Gefahr. Ich hoffe, dass wir auch 2011 wieder nach Sierksdorf fahren können."

Über das kommende Jahr denkt Besmir noch nicht nach. Er ist ganz im Hier und Jetzt. Genießt das Kribbeln im Bauch beim Karussellfahren. Mit seiner Familie zu picknicken und zu lachen.

Besmir ist glücklich. Es sind Sommerferien. Und er muss nicht mehr grübeln, worüber er seinen Schulaufsatz "Mein schönstes Ferienerlebnis" schreiben wird.