Joachim Hentschel, Reporter des Magazins “Rolling Stone“, durften beim Giganten über die Schwelle. Seine Reportage erscheint hier in gekürzter Form.

Hamburg. Um die heikelste Frage gleich zu beantworten: Ja, sogar die Kabinen der Gästetoiletten in Paisley Park sind lila. Lila wie der "Purple Rain" und das Doppel-LP-Cover von "1999", wie die Husarenmäntel und Disco-Stierkämpferhosen, die Hausherr Prince trug, wenn er in besten Zeiten mit seinem Publikum öffentlich Liebe machte. Lila wie die Streifen und Logos, die er 2006 auf die Fassade eines von ihm gemieteten Anwesens in West Hollywood malen ließ. Wofür er damals vom Basketballspieler Carlos Boozer verklagt wurde, dem Besitzer, der bei der Farbauswahl sicher gern mitgeredet hätte.

Für viele Musikfreunde dürfte es die größte Überraschung sein, dass es Prince Rogers Nelson, 52, überhaupt noch gibt, dass er im Jahr 2010 eine neue Platte namens "20TEN" und eine Europatour gemacht hat. Er, der wunderliche kleine Satansengel des Funk-Sex-Pop, einer der größten Superstars, die zwischen Punk und Techno passten, der Michael Jackson für Coole, der geschätzte 100 Millionen Alben verkauft hat. Der Geniekult, den Prince um sich selbst herum errichtete, wirkte zeitweise albern und realitätsfern - allerdings zog er ihn konsequent genug durch, um später die Früchte zu ernten: Sein Konzept war nie zu fassen, keine seiner Ideen waren vorhersehbar, auch nicht die schlechten. Deshalb bürgt auch das 27. (oder 28. oder 29.) Prince-Album noch für sonderbare Spannung: Was wird er diesmal tun?

Für die Eingeweihten ist die eigentliche Nachricht 2010, dass Prince wieder in seine Geburtsstadt Minneapolis heimgekehrt ist, von Los Angeles zurück nach Paisley Park. Den Parkplatz gefegt, die Möbel entstaubt, die Duftkerzen wieder angezündet hat.

Um reinzukommen, braucht man natürlich mindestens eine Einladung. Beim "Rolling Stone"-Termin läuft alles nach Plan. Tag und Uhrzeit werden über Wochen im Ungefähren gehalten, nächster Freitag sei allerdings ausgeschlossen. Donnerstagmittag dann die akute Nachricht: doch Freitag! Am St. Paul International Airport meldet sich die englische Prince-Sprecherin mit Details zum Treffpunkt - im Chanhassen Holiday Inn werde man abgeholt, wenn es Zeit sei. Streng verboten in Paisley Park, schon immer: Aufnahmegerät, Fotoapparat. Notizblock ginge gerade noch, auch der bereite Prince schon Bauchschmerzen. Weil er es lieber sieht, wenn man sich später an das erinnert, was von allein im Kopf geblieben ist. An die Vibes.

Fast egal, wen man in Minneapolis trifft: Jeder hat seine Prince-Geschichte, die er unbedingt erzählen will. Oder muss. Das Mädchen im Café war natürlich nie ein echter Fan, ließ sich von der Schwester nur mal zu den Paisley-Partys mitnehmen. "Wir standen stundenlang auf dem Parkplatz, plötzlich öffnete er die Tore. Und ich stand so nah bei ihm ..." Der ägyptische Chauffeur, der am Flughafen auf einen Fahrgast wartet, gibt mir gleich die Nummer seines Cousins Mohammed: "Fragen Sie ihn nach Prince! Der saß früher immer in seinem Restaurant!" Ja, der Junge sei oft mit Freunden ins Java gekommen, bestätigt der Cousin. Meistens habe er sich nur einen Kaffee für 50 Cent bestellt, dann heißes Wasser aus der Küche. "More water! More water! Hat er bekommen, obwohl er zahlenden Gästen den Sitzplatz wegnahm. Zwei Jahre später schlage ich die Zeitung auf und fass es kaum: That Prince guy!"

Die Fahrt geht über den Minnesota State Highway 5, von Minneapolis raus nach Chanhassen, dem 24 000-Einwohner-Vorstädtchen, in dem Prince zwischen den vielen Parks und Seen zwölf Grundstücke besitzt.

"Ich trinke gar keinen Kaffee", sagt Prince, als ich ihm eine halbe Stunde später im Atrium von Paisley Park von Mohammed erzähle. Ein dreistimmiges Kichern antwortet vom Nebentisch: "Hihihi!" Die drei Backgroundsängerinnen Shelby J, Liv Warfield und Elisa Fiorillo spielen die griechischen Sirenen, tuscheln halblaut untereinander, gackern, wenn Prince etwas andeutungsweise Lustiges sagt, stecken dann wieder die Köpfe zusammen.

Klavierhocker sind die einzige Art Stuhl, die ihn länger als fünf Minuten hält

Woher ich komme, fragt Prince. Berlin. Oh, da fliege er gerne zum Möbel- und Modekaufen hin.

Lobreden auf Prince konzentrieren sich gewöhnlich auf die außerordentlichen musikalischen Talente. Erst wenn man ihm gegenübersitzt, realisiert man: Natürlich verdankt dieser Mann den Erfolg mindestens so sehr seiner simplen Smartness, seinem teuflisch guten Aussehen. Von dem er immer so gekonnt ablenkt, mit flammenden Gitarrensoli, weltbesten Jazzfunk-Harmonien und Edelstein-Refrains. Trotz der berühmten rund 1,60 Meter wirkt er nicht wirklich klein, die Proportionen sind kompakt, perfekt: türkisfarbenes Hemd, ansonsten ganz in Weiß mit ärmelloser Wolljacke, Schlaghose und Leinenschuhen, Milchkaffee-Gesicht. Aus einem Plastikbecher trinkt er einen frozen Strawberry-Dingsda, natürlich nichts mit Alkohol. Und signalisiert sanft, dass er gerade Lust hat, sich ein wenig interviewen zu lassen. Was ja nicht oft vorkommt.

Also: Mr. Prince, wie haben Sie das gemacht? Oder besser: Passiert es oft, dass Ihnen Menschen mit völlig gestörten Erwartungshaltungen begegnen? "Keine Ahnung. Ich lasse nur selten Fremde in meinen engen Kreis herein." Aber wie fühlt es sich an, als virtuoser Tausendsassa die besten Kritiken immer nur dann zu bekommen, wenn man genau so klingt wie ganz früher? "Ach, ist das so?", fragt Prince und zieht die Brauen hoch. "Auch egal. Die Erwartungen anderer Leute sind für mich nicht relevant. Aus dem einfachen Grund, dass ich kein Teil der Musikindustrie mehr bin. Meine Welt funktioniert nach anderen Kriterien. Erst neulich hat mich wieder ein Mann aus dem Business gefragt: Warum lässt du nicht mal eines deiner Alben von einem Außenstehenden produzieren? Und ich: Schöne Idee, aber wer soll das sein? Als Werbegag brauche ich das nicht."

Er steppt rüber in eines der Chill-out-Zimmer mit Ausgang zum Garten. An der Wand übergroß das "The Rainbow Children"-Albumcover mit der stilisierten Jazzband, darunter das Klavier. "Wenn ich heute diese Musik höre", beginnt er zu predigen, nachdem er sich auf den Klavierhocker gesetzt hat, übrigens die einzige Art von Stuhl, die ihn länger als fünf Minuten halten kann, "dieses ganze beliebte Eighties-Dance-Stuff-Revival ... alles so platt, simpel und offensichtlich. Die alten Synthesizer, die alten Akkorde." Er fängt an zu improvisieren, Nachmittags-Nachtklubmusik. "Man muss sich seine Harmonien selbst erfinden!" Er klimpert weiter, während er spricht, skippt durch verschiedene Stücke. Neben dem Klavier auf einem roten Lotuskissen balancierend, kann ich aus nächster Nähe beobachten, wie Prince sich in der Musik zu verlieren beginnt, die er selbst spielt.

"Siehst du, das ist mir heilig!", ruft er. "Musik soll den Geist befreien, uns auf die nächsthöhere Stufe heben. Und wenn sie diesen Drive verliert, wenn sie flach und berechenbar wird ..." - mit der linken Hand gestikuliert er die nach unten zeigende Kurve - "... dann verliere ich sofort das Interesse. Ohne Musik wäre die Welt ein so statischer, unbeweglicher Ort!"

In dem Moment, wie auf Stichwort, rauschen die drei Musen ins Zimmer. Sie haben Leitz-Ordner dabei, mit Notenblättern in Prospekthüllen, wie bei der Kirchenchorprobe. Es geht los: die uralte Single-B-Seite "How Come U Don't Call Me Anymore?", "Lean On Me" und "Que Sera Sera", "Nothing Compares 2 U", "Diamonds And Pearls", zwischendurch wirft er als Gag die Titelmelodie der "Addams Family" ein. Die Sängerinnen harmonieren wie schwarze Engel, die Luft bebt. Prince gibt Anweisungen, beim nächsten Mal bitte so und so, alles wird notiert. Und schon schlägt der leicht autoritäre Ton wieder in Jubel um: "Wie kann man das hören und nicht sofort eine Europatour buchen?", ruft er mir zu. "Wenn du Geld dabei hast - bitte jetzt werfen!"

Das Komplizierteste von allem eh schon Komplizierten an Prince ist sein eigenartiges Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft, zur Zeit überhaupt. Fragen über frühere Unternehmungen weicht er aus, auf Pläne oder Vorausblicke lässt er sich nicht festlegen. Beides mit derselben Begründung: Er lebe strikt im Jetzt, in der Gegenwart. Nicht mal zum neuen Album "20TEN" - das übrigens auf ganz bezaubernde Art an die eben noch von ihm diskreditierten alten Synthesizer und alten Akkorde seiner Dirty-Funk-Zeit erinnert - will er viel sagen. Er habe doch schon längst wieder neue Musik gemacht, "ein neues System, das aber frühestens im Winter bereit für die Öffentlichkeit ist".

Zwei Ereignisse dürften mit für das verantwortlich sein, was man bei aller Liebe an Prince sonderbar und unverständlich finden kann. Erstens: die Konversion zu den Zeugen Jehovas, kurz nach der Jahrtausendwende, unter Einfluss des Bassisten und Freundes Larry Graham. Es gibt Augenzeugen, an deren Türen er mit dem "Wachtturm" geklingelt haben soll. Den Gottesdienst besucht er im öffentlichen Königreichssaal in St. Paul.

Zweiter Faktor: der berühmte Streit mit der Plattenfirma Warner Brothers, deren Veröffentlichungspolitik und PR-Arbeit er als Nötigung empfand.

Dass er eine Zeit lang als Weirdo mit "Slave"-Aufschrift im Gesicht und albernem Symbolnamen herumlief, verdeckt ein wenig die Tatsache, dass Prince damals als Einziger die wahrhaft visionären Bilder sah: "Wenn das Internet irgendwann richtig funktioniert, ist die Musikindustrie geliefert", sagte er schon 1995, verkaufte 1997 die "Crystal Ball"-Box übers Netz, betrieb bereits ab 2001 über seinen "NPG Music Club" einen Downloadshop. Und er lag radikal richtig. Seine CDs verschenkt er manchmal auch gleich. Dass sich viele darüber ärgern, die noch im alten System stecken, hat für ihn keine Bedeutung.

"Den Durchbruch zu schaffen, was heißt das heute eigentlich?", beginnt Prince später in der Küche den Monolog über sein - nach Gott - zweites Lieblingsthema. "Hit-Singles interessieren keinen mehr. Jeder veröffentlicht Musik, alles ist frei zugänglich. Wenn überhaupt, dann hebt man sich durch Persönlichkeit ab. Dadurch, dass man das wahre Vokabular der Musik beherrscht. Erykah Badu, D'Angelo, Jill Scott, sie waren von Anfang an vollendet, sie mussten von keiner Plattenfirma hochgepäppelt werden. Jimi Hendrix hatte London im Sack, ehe er eine einzige Platte veröffentlichte. Es gibt keinen Grund für junge Künstler, den angeblichen Gatekeepern zu Füßen zu fallen."

Auf die Frage, ob es nach den abgebrochenen Fanklub-Projekten eine neue Online-Präsenz geben werde, antwortet er nur mit einem genervt klingenden Laut. "Das Internet ist für uns durch. Erinnerst du dich noch daran, wie es war, als MTV plötzlich nicht mehr cool, sondern alt war? So geht es uns mit dem Netz. Wir waren von Anfang an dabei, haben einen Haufen Awards dafür gewonnen - jetzt ist Zeit für etwas Neues. Ich muss meine Meinungen auch nicht mit der ganzen Welt diskutieren. Ich lerne nichts, wenn ich vor flachen Bildschirmen sitze - ich lerne nur von echten Menschen. Vor ein paar Tagen hatte ich hier ein paar Freunde zu Gast, wir unterhielten uns über den Planeten, über die Probleme und darüber, wie sie zu lösen sind. So kommuniziere ich mit der Welt."

Wäre es denkbar, dass er irgendwann keine Platten oder Tourneen mehr macht, einfach irgendwo die Bühne hinstellt, wie damals in den 21 Nächten in London, und die Leute zu sich kommen lässt, die seine Musik wollen?

"Schau, du lebst im Kopf schon im Jahr 2020", beschwichtigt Prince im geübten Bariton-Tonfall des weisen Gurus. "Ich lebe im Jetzt."

Für das örtliche Footballteam schrieb Prince eine neue Hymne

Der Künstler, 1958 als Sohn ein Jazzmusikerpaares geboren, im Norden der Stadt aufgewachsen und bis auf die kurze Zeit in L. A. nie aus der näheren Umgebung verschwunden, kultiviert in seinem sonst so glamourös-spirituellen Werk einen überraschenden Lokalpatriotismus. Für das örtliche Footballteam Vikings (Vereinsfarbe: Lila!) schrieb er kürzlich eine neue Hymne. Im unbetitelten Bonustrack des Albums "20TEN" platziert er sich explizit als Sohn aus dem "Herzen von Minnesota". Minneapolis tauft er "Funkytown".

Es fühlt sich so an, als würde man im Städtchen umhergehen und die Bürger fragen, wie sie den ominösen König finden, der einsam im Schloss vor den Toren haust. Und keiner sagt etwas Schlechtes über ihn. Obwohl die meisten ihn seit Jahren nicht gesehen haben.

"Er sorgt schon dafür, dass die Leute seine Anwesenheit spüren", meint Dustin Meyer, langjähriger DJ in der Prince-Entourage, heute Resident in der Saturday-Night-Disco Envy. Früher gab es ja auch die berühmten Partys in Paisley Park: Um Mitternacht bekam Meyer meistens einen Anruf, zwei Stunden später war die Bude voll mit schnell entschlossenen jungen Leuten, bis fünf Uhr feierte Prince mit ihnen. "Klar benimmt er sich manchmal seltsam. Aber das macht er mit Absicht, um das Geheimnis zu wahren." Warum er 2006 wohl nach Los Angeles zog? "Keine Ahnung. Aber er ist ja zurückgekommen. Er kommt immer zurück." Könne übrigens gut sein, mutmaßt Meyer, dass Prince heute Abend noch im Envy reinschaut. Dann gebe er Bescheid.

Am Tag davor, auf dem Weg zur Ausgangstür, hatte Prince übrigens noch eine eher überraschende Ankündigung gemacht. Er werde bald einiges umdekorieren, und dann solle Paisley Park zum offenen Haus werden, das jeder besuchen kann. Wie ein Museum, eine Kirche? "Immer diese Fangfragen!" Wie Graceland, könnte man auch sagen. Ein Wohlfühlraum zu Ehren des abwesenden, anwesenden Künstlers. Auch die Partys sollen wiederkommen. "Wir werden dieser Stadt schonend beibringen", sagt Prince, konspirativ murmelnd, "dass wir wieder da sind."

Prince lebt nicht nur im Jetzt. Er lebt auch hundertprozentig im Hier.

Joachim Hentschel ist Reporter des Magazins "Rolling Stone". Seine Reportage erscheint hier in gekürzter Form.