Der Rektor der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie hält diese Forschungsaufgabe für ebenso wichtig wie die Weiterentwicklung der Medizin.

Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist bekannt: Nur er half dem Kranken am Wegesrand, brachte ihn in eine Herberge, auf eigenes Risiko und eigene Kosten. Heute würden wir uns jemandem, der am Wegesrand liegt, vermutlich langsam nähern, vorsichtig die Lage peilen und dann zum Mobiltelefon greifen und Leute rufen, die sich beruflich damit befassen. Da müssen Profis ran, wie sollte es auch anders sein? Selbst der barmherzige Samariter könnte nicht jede Woche helfen und immer wieder die Herberge bezahlen.

Die christliche Geschichte markiert den Ausgangspunkt einer Hilfe, die über sich hinausweist: Der barmherzige Samariter hilft nicht eigenen Leuten, sondern einem völlig Fremden. Und das ist der Ausgangspunkt der Entwicklung einer Solidarität aller mit allen. Diese Solidarität ist der unbedingt zu bewahrende Kern der Zivilgesellschaft. Leider wird dies nicht immer als Fortschritt gesehen, denn Fortschritt binden wir in der Regel an Technik: die Erfindung des Rades oder des Motors. Darum wird oft vergessen, dass auch der Sozialstaat ein zivilisatorisches Wunderwerk ist.

Und er wird gelegentlich insgesamt auf den Prüfstand gestellt. Er sei zu teuer, er sei ein Kropf, er sei überflüssig. Überflüssig? Das würde uns beim Rad oder dem Otto-Motor niemals einfallen. Ich meine, so wie wir darüber nachsinnen, die Kugellager für den Radlauf zu verbessern und die Wirkungskraft von Motoren zu erhöhen, so müssen wir danach streben, die Leistungen des Sozialstaates zu optimieren - und nicht, ihn abzuschaffen. An den Hochschulen brauchen wir nicht nur Exzellenzcluster für die Beförderung des technischen Fortschritts, sondern auch für die Entwicklung des Sozialstaates.

Der Sozialstaat - das sind wir alle, denn wir alle geben etwas hinein, und wir alle nehmen etwas heraus. Seine Weiterentwicklung aber ist unsere Aufgabe in den Sozialen Berufen, für die in Hamburg neben der Evangelischen Hochschule auch die staatliche Hochschule (HAW) sowie die Erziehungswissenschaft an der Hamburger Uni ausbilden. Soziale Dienstleistungen sind nicht als Nothilfe zu sehen wie die des barmherzigen Samariters. Es bedeutet, unseren Sozialstaat wissenschaftsbasiert voranzutreiben, Bildung und Vorsorge so zu stärken, dass Nothilfe nur noch in wenigen Fällen nötig wird.

Meine Gleichsetzung des Rades mit dem Sozialstaat unterschlägt einen Punkt allerdings: Das Rad unterliegt unabänderlichen Naturgesetzen. Der Sozialstaat hingegen funktioniert nach zivilisatorischen Grundsätzen, die wir uns selbst geben und die von Macht und Einfluss abhängig sind. An der Weiterentwicklung des Sozialstaates sind jedoch vor allem die Schwachen interessiert. Und die haben eine dünne Stimme. Darum geht es in den modernen sozialen Dienstleistungsberufen schon lange nicht mehr nur darum, Nothilfe, Bildung und Vorsorge zu leisten. Sondern: Wie können wir dafür sorgen, dass alle an der Gemeinschaft teilhaben? Daher werden an unserer Hochschule weiterführende Fragen thematisiert: Ab wann müssen wir helfen? Kann sich die Person selbst helfen? Wie können wir das unterstützen, vor allem durch Bildung? Klare Antworten kann es leider nicht auf alle diese Fragen geben. Denn ein Mensch ist keine Maschine, wir können kaum Vorhersagen treffen. Was für ein Glück, wie arm wäre unser Leben unter den Bedingungen der Vorhersehbarkeit. Menschen reagieren offen, und wir wollen eine offene Gesellschaft. Dafür benötigen wir den Sozialstaat mit seinen personenbezogenen Diensten. Soziale Arbeit ist ein volkswirtschaftliches Gut. Es hat sich nur noch nicht überall herumgesprochen, dass dieses Gut so bedeutsam ist wie der medizinische und technische Fortschritt.