Dem eigenen Zwillingsbruder eine Plastiktüte über den Kopf ziehen und ihn mit Autoabgasen vergiften: Was kann einen Menschen dazu bringen, so etwas aus Zuneigung zu tun? Gestern wurde der Fall vor dem Amtsgericht Bergedorf verhandelt.

Bernd L. spricht langsam und konzentriert. Doch immer wieder wird der kräftige, bärtige Mann von Weinkrämpfen erschüttert, immer wieder laufen Tränen über sein Gesicht. Gut eine Stunde lang schildert der 68-Jährige vor dem Gericht die Leidensgeschichte seines Zwillingsbruders. Es ist auch seine eigene Leidensgeschichte. Denn die Brüder, das wird vor Gericht deutlich, hätten alles füreinander getan.

Ralf L. arbeitete als Künstler. Nach wirtschaftlichem Misserfolg und schweren Erkrankungen folgte der erste Selbstmordversuch. Ralf L. schnitt sich die Pulsadern auf - überlebte nur durch eine Notoperation. "Danach war er nicht mehr davon abzubringen, sein Leben beenden zu wollen", sagt der Angeklagte vor Gericht. Unter anderem stach sein Bruder sich selbst ins Herz und schluckte 40 Schlaftabletten.

"Es wäre für mich sicher einfacher gewesen, einen Arzt zu Hilfe zu holen", sagt Bernd L. Er tat es nicht. Stattdessen wachte er zwei Tage am Bett seines lebensmüden Bruders, der sich insgesamt 70 Schnitte an den Handgelenken zugefügt hatte. Diese Zahl hat die medizinische Sachverständige festgestellt. Dreimal hatte sich Ralf L. zudem in die Brust gestochen, zwei Stiche verletzten den Herzbeutel. Es waren zwei lange Tage und Nächte, in denen Ralf seinen Bruder immer wieder bat, ihn nicht zu verlassen. Er hatte schon Jahrzehnte unter starken Depressionen gelitten.

So, wie er ihn flehentlich bat, keinen Arzt zu holen. Schon vorher hatte er ihm das Versprechen abgenommen, ihn im Fall der Fälle sterben zu lassen. "Du bist der beste Zwillingsbruder, den ich mir wünschen konnte. Es tut mir sehr leid, Dir all diesen Schmerz und dieses Leid zufügen zu müssen. Ich liebe Dich über alles", liest die Richterin aus einem Brief des Künstlers an seinen Bruder vor. Bernd L. holte keinen Arzt. Er stülpte seinem Bruder auf dessen Verlangen hin schließlich eine Plastiktüte über den Kopf und leitete über einen Staubsauger- und einen Gartenschlauch Autoabgase hinein. Nach 20 Minuten war Ralf L. tot.

"Er sah friedlich und entspannt aus", sagt Bernd L. Für ihn ist das wichtig, er wertet es als ein Zeichen, dass Gott ihm seine Tat vergeben hat.

Hat er seinen Bruder tatsächlich getötet? Die medizinische Sachverständige geht "mit hoher Wahrscheinlichkeit" davon aus. Doch sicher ist sie nicht. Dafür hätte es eines toxikologischen Gutachtens bedurft. Ralf L. war schwer krank. Depression, Schlaflosigkeit, permanente Ohrgeräusche, Herzinfarkt, mehrere Schlaganfälle. Die starke Verkalkung der Gefäße und das angegriffene Herz hätten jederzeit zum Tode führen können, stellt die Expertin fest. Hinzu kamen die Verletzungen, die Ralf L. sich selbst zugefügt hatte.

Staatsanwalt Holger Rebsdaf würdigt in seinem Plädoyer die schwierige Ausnahmesituation im November 2009. Zu ihr gehört die Angst, unter der Ralf L. besonders litt, aus finanziellen Gründen das Haus in Reitbrook zu verlieren, in dem die beiden Brüder lebten und arbeiteten. Dennoch forderte der Ankläger ein Jahr und zwei Monate Haft zur Bewährung. "Vielleicht wäre es ein gangbarer Weg gewesen, sich psychologischen Rat zu holen", sagt er. "Wir leben in einem Staat, der die Todesstrafe nicht anwendet und der auch die aktive Beihilfe zum Sterben unter Strafe stellt." Man müsse mit dem Urteil auch das richtige Signal an die Gesellschaft senden. "Wann endet das Strafbedürfnis des Staates?" fragt Rechtsanwalt Heiko Ahlenstorf. Sicher hätte der Gesetzgeber einen solchen Fall wie den von Bernd L. nicht im Auge gehabt, als er das Töten auf Verlangen unter Strafe stellte. Er fordert daher eine Bewährungsstrafe unter einem Jahr.

Mehrere Minuten überlegt die Richterin, bevor sie das Urteil verkündet: zehn Monate Haft zur Bewährung. In ihrer Begründung spricht auch sie noch einmal von der Notwendigkeit, das Töten auf Verlangen als Straftat zu ahnden. Allerdings habe sie keine Zweifel daran, dass der Angeklagte in seiner Notlage nicht anders handeln konnte. Auch sei sie sich sicher, dass Bernd L. nie wieder straffällig wird.

"Ich kann das Strafbegehren des Staates verstehen", sagt Bernd L. Bevor er geht, bedankt er sich für die einfühlsamen Plädoyers des Staatsanwaltes und seines Verteidigers. Ob er Revision einlegen wird, wollte der Angeklagte noch nicht entscheiden.