Daniel erleidet bei einem Autounfall schwerste Verletzungen. Der Fahrer flüchtet unerkannt. Ein Video könnte Daniel zu seinem Recht verhelfen.

Hamburg. Daniel ist 21 Jahre alt und lernt gerade das Alphabet. Stolz zählt der Wilhelmsburger alle 26 Buchstaben auf. "X, Y, Z", er lacht. Doch schon im nächsten Moment ist sein Lachen verschwunden. Wenn er an diesen Sommertagen auf dem Balkon sitzt und vor seinen Augen Menschen spazieren gehen, dann wird Daniel wütend, drückt sich mit aller Kraft von den Armlehnen seines Rollstuhls ab und sagt: "Ich will ohne den."

Nur Sekunden später muss sich der Junge mit den schwarzen Haaren und den braunen Augen wieder fallen lassen. "Es grenzt an ein Wunder, dass Daniel überhaupt wieder Kraft hat, dass er sprechen und lachen kann", sagt seine Schwester Marisol. Die 26 Jahre alte Arzthelferin pflegt ihren Bruder so oft sie kann und erinnert sich noch genau an den tragischen Unfall vor zweieinhalb Jahren. Sie ist nicht dabei gewesen, aber Daniels Freunde haben ihr immer wieder beschrieben, was in dieser Nacht passiert ist.

Am Abend des 5. Januar 2008 rast ein Mercedes heran, als Daniel die Harburger Chaussee überquert. Das Fahrzeug erfasst den jungen Mann und schleift ihn mit. Der Fahrer flüchtet. Das Auto hat Daniel erst nach 18 Metern abgeworfen, steht im Polizeibericht. Erschreckend ist dabei auch die Tatsache, dass die Spurensicherung keine Bremsspuren feststellen konnte.

Daniel sei unvermittelt hinter einem Baum hervorgetreten, heißt es in dem Bericht. Wer schon mal auf der Harburger Chaussee in Wilhelmsburg gefahren ist, weiß, wie übersichtlich diese Straße ist. Zwar stehen Bäume am Straßenrand, aber diese hatten im Januar 2008, laut Polizeibericht, nur einen Durchmesser von zirka 30 Zentimetern. Nach Zeugenaussagen fuhr das Fahrzeug trotz Dunkelheit ohne Licht, einige Zeugen gaben an, dass der Fahrer des Mercedes nach dem Unfall flüchtete. Doch keiner der Zeugen hat den Fahrer eindeutig identifizieren können.

Die Staatsanwaltschaft hat am 4. April 2008 zwar Anklage erhoben, doch es hat nie ein Hauptverfahren gegeben. Mit einem Nichtzulassungsbeschluss lehnte das Harburger Amtsgericht am 20. August 2008 die Eröffnung des Verfahrens ab. Denn die Aussagen der angetrunkenen Jugendlichen, die bei dem Unfall in der Nähe waren, konnten den Richter nicht überzeugen: Sie hätten den Fahrer nicht gesehen.

Auch eine Videoaufzeichnung, die den möglichen Fahrer und ermittelten Halter des Fahrzeugs zeigt, hat den Richter des Harburger Amtsgerichts nicht überzeugen können. Eine Beschwerde legte die Staatsanwaltschaft nicht ein, "denn die Beschlussgründe waren einfach überzeugend", sagt Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers.

Was für ein Video? Nur Wochen nach dem Unfall ist ein Mann mit dem mutmaßlichen Unfallauto zu einem Baumarkt gefahren. Dem Ladendetektiv ist das beschädigte Auto aufgefallen, und er hat das Videomaterial der Polizei übergeben. Darauf zu sehen ist der mögliche Fahrer des Fahrzeugs, der einem anderen Mann offensichtlich den Tathergang schildert und sich dazu auf die Front des Fahrzeugs legt.

"Für mich ist es unerträglich und unbegreiflich, dass es noch kein Verfahren gegeben hat", sagt Daniels Mutter Josefa, 46. Nach einem Anwaltswechsel möchte der neue Anwalt der Familie, Daniel Scheibner, erreichen, dass nun auch ein Strafverfahren durchgeführt wird, dem sich Daniel als Nebenkläger anschließen kann. "Wir prüfen jetzt neue Beweismittel", sagt Scheibner. Auch die Schadenersatzansprüche will der Anwalt für Daniel durchsetzen.

Schließlich ist Daniel seit dieser Nacht vor zweieinhalb Jahren ein Pflegefall. Der sportliche Junge, der vor seinem Unfall bei der Axel-Springer-Tochtergesellschaft Pace eine Ausbildung zum Restaurantfachmann begonnen hatte, wurde in der Unfallnacht in der Notaufnahme von St. Georg operiert, 21 Brüche zählten die Ärzte: Halswirbelbruch, Beckentrümmerbruch, die Ferse fehlte; das Schlimmste aber waren eine schwere Hirnblutung sowie ein tiefer Riss in der Schlagader vom Herzen.

Daniel wurde operiert - ein Teil der Schädelplatte entfernt - und ins künstliche Koma versetzt. Mit miserabler Überlebensprognose. Doch seine Mutter und seine Schwester wollten auf keinen Fall die Geräte abschalten lassen - auch in zweieinhalb bangen Monaten des Wachkomas nicht.

Die Sorge um ihren Sohn machte Mutter Josefa krank, sie erlitt einen Schlaganfall. Dabei hatte sie erst kurz zuvor erfahren, dass sie Krebs hatte. Auch Vater Antonio, 49, und Daniels Bruder Juan-Antonio, 24, sind beinahe an dem schweren Schicksal zerbrochen. Vater Antonio litt an Depressionen und verlor seinen Arbeitsplatz. Die beiden Töchter Marisol, 26, und Laura, 13, waren mit ihren Kräften am Ende. Aber die Familie hat nicht aufgegeben.

Heute hat Daniel je dreimal in der Woche Krankengymnastik, Hirn- und Sprachtraining. Trotzdem erleidet er durch schwere epileptische Anfälle immer wieder Rückschläge und leidet darunter, dass er im Rollstuhl sitzen muss. Im November 2009 hat die RTL-Sendung "Helfer mit Herz" den Umzug der Familie in eine behindertengerechte Wohnung ermöglicht. Daniels Zimmer ist in den Farben seines Lieblingsvereins HSV gestaltet. Blau, Schwarz, Weiß. An der Tür hängt das Abc.