Politikverdrossenheit, mangelnde Partizipation, gesellschaftliches Desinteresse sind Schlagworte, mit denen in den letzten Jahren oft die Haltung der Bundesbürger beschrieben wurde. In Hamburg erleben wir derzeit eine völlig andere Situation. Volksbegehren, Bürgerentscheide, Bürgerforen fordern die traditionelle Politik heraus. Sie spiegeln ein Unbehagen an der politischen Klasse, einen Vertrauensverlust gegenüber den gewählten Vertretern. Etabliert sich so eine neue Bürgerschaft, fernab von der, die im Hamburger Rathaus sitzt?

Betrachtet man die heutigen Möglichkeiten der Informationstechnologie und der damit verbundenen Vernetzung, lassen sich weitgehende Dimensionen der direkten Demokratie denken.

Werden wir demnächst Straße für Straße im Internet abstimmen, an welchem Tag die Müllabfuhr kommt? Werden die Anrainer der geplanten Stadtbahntrasse oder alle Hamburger über die Wiedereinführung der Stadtbahn auf der geplanten Trasse abstimmen? Werden wir die Umsetzung von Sparbeschlüssen demnächst nach Volksentscheid treffen?

So verlockend bürgernah und basis-demokratisch diese Verfahren wirken und so leicht sie schon heute technologisch umsetzbar sind, so werfen sie grundsätzliche Fragen auf, die mit jeder Entscheidung verbunden sind. Das St.-Florians-Prinzip mag so manches Gebäude verschont haben, doch das Haus des Nachbarn hat stattdessen gebrannt. Interessen einzelner Bürger, Straßengemeinschaften oder Nachbarschaften können letztlich Entwicklungen blockieren, die im Interesse der ganzen Stadt höchst sinnvoll wären. Derartige Blockaden haben unsere Kinder und Enkelkinder nicht verdient!

Und wer übernimmt die Verantwortung für die in Bürgerbegehren getroffenen Entscheidungen, wenn sie sich später als Bremse oder grober Fehler erweisen?

Letztlich kann man keine Bürgergruppe abwählen. Wie also umgehen mit den Instrumenten Volksbegehren und Bürgerbegehren? Wie dieses Interesse eines wachen, aktiven Bürgertums tatsächlich zum Wohle der Stadt nutzen? Unsere Stadt braucht die Beteiligung aller Bürger, die Interessen artikulieren, die das politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Leben gestalten, Reformen und Innovationen anregen und umsetzen, die die Entwicklung der Stadt zu ihrer Sache machen.

Über Vereine, Bürgerstiftungen, Interessengruppen, Klubs und gemeinnützige Stiftungen ist eine Vielzahl von außerparlamentarischen Einrichtungen vorhanden. Doch am Ende müssen gesamtverantwortliche Entscheidungen stehen! Widersprechende Forderungen und Dissens wird es immer geben. Die Frage bleibt, wie wir diesen Dissens moderieren und gestalten. Eine populäre Entscheidung ist nicht zwangsläufig die richtige.

Das aktuelle Hamburger Volksbegehren um die Primarstufe am kommenden Wochenende ist jetzt der einzig richtige Weg, um diese Reform oder auch ihr Scheitern überhaupt noch zu rechtfertigen.

Es ist deshalb der einzige und verbindliche Ausweg, weil die Schulreform überhastet vorangetrieben wurde. Sie hätte von vornherein auf eine längere und gründlichere Vorbereitungszeit angelegt werden müssen, dafür ist eine einzige Legislaturperiode einfach zu kurz. Nach der Entscheidung müssen Frieden und Akzeptanz aller Beteiligten vorherrschen (wie in der vergangenen Woche in einem Beitrag an dieser Stelle der Geschäftsführer der Law School Hamburg, Hariolf Wenzler, treffend bemerkt hat). Nach dieser Abstimmung müssen wir uns in Hamburg allerdings grundsätzlich fragen, wie wir zukünftig Volksbegehren und Bürgerentscheide auf Bezirksebene für das politische Wohl unserer Stadt einsetzen wollen.

Eine Kernaufgabe der politischen Klasse, also der Volksvertreter ist es, Entscheidungen so grundsätzlich vorzubereiten, in der Stadt so zu verankern, so viele Bürger einzubeziehen und mitzunehmen, dass die Entscheidungen von Bürgerschaft und Senat tatsächlich den Willen der Stadt spiegeln. Dabei muss stets über den Status quo hinaus an die Perspektiven der Stadt gedacht werden.

Werden zukünftig immer mehr Entscheidungen über Bürgerbegehren und Volksbegehren getroffen, wird sich der Bürger fragen, warum er überhaupt alle vier Jahre zur Wahl der Bürgerschaft gehen soll. Die parlamentarische Demokratie, die sich in Deutschland bewährt hat, hätte solch einen Abgang nicht verdient.