Manche Erkenntnisse und Behauptungen werden immer weiter überliefert, obwohl sie längst widerlegt sind: Stiere reagieren auf die Farbe Rot, Einstein war ein schlechter Schüler, Spinat enthält besonders viel Eisen.

Ein weiterer Kandidat für die Aufnahme ins Lexikon der populären Irrtümer ist der Satz: Angela Merkel denkt vom Ende her. Er soll erklären, wie sich die ostdeutsche Physikerin in der von westdeutschen Männern geprägten Politik so eindrucksvoll durchsetzen konnte - indem sie vermeintlich konsequent und strategisch ihre Ziele verfolgte, während die Konkurrenz sich in den üblichen Ritualen und Intrigen verzettelte.

Dabei hatte Merkel wohl meist nur die besseren Nerven und die größere Entschlossenheit. Wie sie wirklich Politik macht, offenbarte die Kanzlerin kurz nach dem Rücktritt von Bundespräsident Köhler in einem ARD/ZDF-Interview. "Wir meistern die Aufgabe, die auf dem Tisch liegt", sagte sie da und fügte hinzu: "Der Mensch wächst mit seinen Herausforderungen."

Pragmatisches Reagieren von Problem zu Problem, das ist Merkels wahres Erfolgsrezept. Es passt ja auch in eine Zeit, in der weltweite Krisen plötzlich und unvorhersehbar ausbrechen. Dagegen sind langfristiges Planen und Kalkulieren eher die Schwäche der CDU-Vorsitzenden. Und schon gar nicht ist sie in der Lage, politische Grundsätze und Überzeugungen über die Tagesaktualität hinaus zu formulieren, zu vermitteln und vorzuleben.

Nach dem Wahlsieg von Union und FDP im September 2009 hat Merkel nur vom Anfang her gedacht, sie wollte möglichst schnell die Koalitionsverhandlungen mit möglichst unverbindlichen Ergebnissen hinter sich bringen. Dass damit erst die Grundlage für den Streit der Koalitionspartner gelegt wurde, dass ihre eigene Partei nach dem bewusst profillosen Wahlkampf dringend Orientierung benötigte - das alles hat Angela Merkel nicht vorhergesehen.

So kann sie froh sein, dass die Regierung in dieser Woche der parlamentarischen Sommerpause entgegenrumpelt. Die Ferien muss Merkel nun aber unbedingt dazu nutzen, die nächsten drei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl einmal vom Ende her durchzudenken - und zwar von ihrem eigenen möglichen Ende als Bundeskanzlerin her.

Auf eine gemeinsame Mehrheit von Union und FDP kann Merkel nicht mehr setzen. Deshalb muss sie sich auch im Hinblick auf ihre eigene Zukunft ganz auf die CDU konzentrieren, muss die CDU möglichst stark für künftige Wahlen und anschließende Koalitionsverhandlungen - mit wem auch immer - machen. Die CDU muss wieder eine lebendige, kampfeswillige Volkspartei werden. Der Parteitag im November, in dem drei der vier stellvertretenden Vorsitzenden (Koch, Wulff, Rüttgers) ersetzt werden müssen, ist Merkels große Chance, vielleicht die letzte.

Gerade in der Partei muss sie sich von ihrer Methode verabschieden, sich nur mit wenigen Vertrauten zu beraten, von oben her den Kurs vorzugeben und das dann mit Erfolgen zu rechtfertigen. Denn so werden die Erfolge schon bei den vielen Landtagswahlen im nächsten Jahr ausbleiben.

Wie schafft es die CDU, Stammwähler zu behalten und neue Wählergruppen zu erschließen? Wie schafft sie es, um nur ein Beispiel zu nennen, gemeinsame politische Heimat für papsttreue Katholiken und Muslime mit Integrationshintergrund zu sein wie die niedersächsische CDU-Ministerin Aygül Özkan? Merkel allein kann darauf keine Antwort geben. Sie muss Diskussionen fördern und sie muss profilierte Vertreter verschiedener Strömungen innerhalb der Volkspartei CDU neben sich platzieren.

"Es kann nicht der einzige Sinn und Zweck einer politischen Partei sein, in jedem Fall in der Regierung zu sein, egal mit welchem Ergebnis, egal mit welcher Politik und egal mit welchem Koalitionspartner." So hat es kürzlich Friedrich Merz formuliert, der ehemalige Merkel-Rivale. Der Satz enthält, bezogen auf die CDU, eine berechtigte Kritik an der Beliebigkeit und Prinzipienlosigkeit der Regierungspolitik.

In einem Punkt klingt Merz aber auch naiv und unpolitisch: Gerade eine Volkspartei muss das Ziel haben, an der Regierung zu sein und den Kanzler, beziehungsweise die Kanzlerin, zu stellen. Das ist mit ein Grund, warum sie so viele verschiedene Menschen als Mitglieder und Wähler ansprechen kann.

Allerdings: "Sinn und Zweck" muss auch die Kanzlerschaft haben.

Wofür steht die CDU, wofür steht Angela Merkel?

Offene Fragen, vom Ende her zu durchdenken.