Wolfgang Sielaff, 68, Hamburgs Ex-Polizeivizepräsident und Chef des Hamburger Weißen Rings.

Hamburger Abendblatt:

1. Herr Sielaff, was bedeutet es für Opfer, wenn Täter wegen Justizpannen vorzeitig aus der Haft entlassen werden?

Wolfgang Sielaff:

Sie werden tief getroffen, sind geschockt und verunsichert. Angst und Verzweiflung erfassen erneut ihr Leben. Aber nicht nur sie reagieren so, sondern auch die mittelbar von der Tat Betroffenen, also Eltern, Geschwister, Freunde. Ihr Rechtsempfinden ist tief verletzt, ihr Vertrauen in staatliches Handeln nimmt Schaden.

2. Wird die Opferperspektive in der Justiz genug berücksichtigt?

Nur bedingt im Rahmen des förmlichen Strafverfahrens. Anders in der Reaktion auf die Tat. Es ist gesicherte Erkenntnis, dass junge Gewalttäter nur mit sofortigen, unmissverständlichen und fühlbaren Sanktionen zu beeindrucken sind. Die Realität sieht anders aus. Die Strafe folgt nicht auf dem Fuße, der Staat wirkt unentschlossen und hilflos. Das deprimiert die Opfer und baut die Täter auf.

3. Für manche Jugendliche ist der Begriff "Opfer" ein Schimpfwort. Was muss passieren, damit dieser offensichtliche Mangel an Mitgefühl beseitigt wird?

Was wir brauchen, ist eine neue Verhaltensethik, die sich mit der Problematik der Opfer auseinandersetzt. Das ist wichtig, weil wir keine Kultur des Umgangs mit dem Kriminalitätsopfer haben. In unserer Gesellschaft ist eine "Winner-Loser-Mentalität" verbreitet, die schon Kinder in Kita und Schule verinnerlicht haben. Sie läuft auf die Heroisierung des Winners hinaus und diskriminiert den Loser als Opfer. Dass der Winner oft der Täter und der Loser sein Opfer ist, ist vielen nicht bewusst. Polizei und Justiz allein können kriminelle Karrieren nicht stoppen.

4. Investieren wir in unserem Land denn genug in die Prävention?

Nein. Die Kriminalprävention muss einen höheren Stellenwert erhalten. Vorbeugung ist der beste Opferschutz. Leider spielt die Vorbeugung gegenüber der Strafverfolgung eine sehr untergeordnete Rolle. Prävention braucht Zeit und Nachhaltigkeit, schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten, Niederlagen sind einzukalkulieren. Investitionen auf dem Gebiet der Strafverfolgung scheinen vordergründig wirksamer und interessanter zu sein. Desillusionierend ist der Umstand, dass wir alle wesentlichen Entstehungsbedingungen von Kriminalität kennen, aber nicht die Ursachen, sondern hauptsächlich die Erscheinungsformen bekämpfen.

5. An wen können sich Opfer von Gewalttaten wenden, um Hilfe zu bekommen?

Der Weiße Ring steht Opfern rund um die Uhr zur Verfügung (bundesweit unter 0800 0800 343). Wie Opfern geholfen werden kann, ist im Internet unter www.weisser-ring.de zu lesen.