Der Geschäftsführer von Foodwatch rechnet vor, dass im Politikbetrieb in Brüssel auf einen verbrauchernahen Interessenvertreter 100 aus der Industrie kommen

Es ist der Vuvuzela-Lärm der europäischen Politik: das aufgeregte Summen und Brummen in der Mickey-Mouse-Bar des Europäischen Parlaments in Brüssel. Zwischen Sitzungen treffen sich hier Vertreter aller möglichen Interessen mit Abgeordneten und deren Mitarbeitern. Die Bar im Herzen der europäischen Demokratie ist nur der sichtbarste Ort der Einflussnahme: Tausende E-Mails hat die Lebensmittelindustrie über Monate an die Parlamentarier verschickt, Einladungen in Schokoladenfabriken ausgesprochen und "Informations"-Stände direkt im Parlamentsgebäude aufgebaut, um die "Ampelkennzeichnung" für Lebensmittel zu verhindern - übersichtliche rote, gelbe oder grüne Symbole für den Anteil von Zucker, Fett oder Salz. Lobbyarbeit für rund eine Milliarde Euro - wo die andere Seite pro Ampel vielleicht eine Million investieren konnte.

Auf einen Verbraucherlobbyisten kommen in Brüssel 100 aus der Industrie, nach vorsichtigen Schätzungen. Kürzlich stimmte das Parlament dann auch mehrheitlich gegen die von Bürgern und Gesundheitsorganisationen geforderte "Ampel" und für ein wenig verbraucherfreundliches Kennzeichnungssystem, entwickelt von der Industrie. Ein Antrag, wenigstens die wissenschaftlich umstrittenen Details des Modells von der Lebensmittelbehörde der EU prüfen zu lassen, wurde abgewiesen.

Ob in der Mickey-Mouse-Bar oder in Hinterzimmern: Europa ist ein Einfallstor für Lobbyisten. Das gilt für das Parlament, dem es an Öffentlichkeit fehlt, mehr noch für Europäische Kommission und Rat, die parlamentarischer Kontrolle weitgehend entzogen sind. Der Eindruck drängt sich auf: Wer die meisten Mittel hat, kann die Gesetze machen. Ein Problem, dass die Einflussnahme für Bürger nicht sichtbar ist.

Das Thema Lebensmittelkennzeichnung hat die Öffentlichkeit erst auf den letzten Metern des Gesetzgebungsprozesses mitverfolgt. Ein Großteil der Lobbyarbeit war da längst geleistet, unbemerkt. Bereits Anfang 2008 legte die Kommission ihren Entwurf vor - die Einflüsterer der Lebensmittelindustrie hatten ihn längst zu beeinflussen versucht, lange bevor Medien berichteten und Parlamentarier berieten. Als Fachpolitiker debattierten, wussten sie nicht einmal, dass die Vorlage verklausuliert sogar ein Verbot der Ampel enthielt. Es darf bezweifelt werden, ob alle Abgeordneten bei der Abstimmung sicher waren, was sie beschlossen: In kaum vorstellbarem Tempo werden da Änderungsanträge aufgerufen, den Durchblick haben eigentlich nur die "Vorturner" der Fraktionen, die bei jedem Einzelvotum ihren Daumen heben oder senken. In der vorangegangenen Debatte hatten sich die Parlamentarier so sehr gemüht, ihre Argumente in die vorgegebene eine Minute Redezeit zu pressen, dass die Synchron-Dolmetscher teilweise kapitulierten: Der Abgeordnete rede so schnell, dass eine Übersetzung nicht möglich sei. Einen ernsthaften Austausch der Argumente, eine bewusste Entscheidung im Namen des Volkes stellt man sich anders vor.

Bevor eine neue Lebensmittelkennzeichnung Gesetz wird, müssen die Fachminister aus den 27 EU-Staaten zustimmen, was die Sache nicht besser macht. Denn nun berät die Exekutive unter sich. Verhandelt wird zwischen Ministern und ihren Adjutanten bereits seit Monaten. Über den Verlauf sind die Wirtschaftsverbände stets bestens informiert, die Bürger erfahren gar nicht erst, dass es diese Gespräche gibt. Solche Prozesse schaden der Demokratie.

Denken wir zurück an den Ausgangspunkt der Ampel-Debatte: Ziel der Politiker war es, Übergewicht und Adipositas zu bekämpfen, die längst Ausmaße einer Volkskrankheit erreicht haben. 70 Milliarden Euro kostet allein in Deutschland die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten. Es bleibt das Geheimnis von Regierenden und Volksvertretern, wie sie gegensteuern wollen, wenn schon bei einer banalen Sache wie der Angabe des Zucker- oder Fettgehalts Gewinninteressen der Lebensmittelkonzerne wichtiger sind als Prävention. Auch national hat die Bundesregierung nicht mehr als einen unverbindlichen "Aktionsplan" zuwege gebracht, mit dem sie Sport und Ernährungsbildung vor allem bei Kindern fördern will. Finanziert werden viele Projekte von der Lebensmittelindustrie.

Die Politik muss sich entscheiden: für die Interessen der Verbraucher oder die der Industrie. Beides geht nicht. Sie braucht endlich den Mut, auch unter riesigem Lobbydruck Regelungen gegen den Willen der Konzerne zu verabschieden, wenn dies gesellschaftlich nötig ist. Das Gemeinwohl darf Wirtschaftsinteressen nicht untergeordnet werden.