65.000 Menschen feiern auf dem Fanfest, während es im English Pub immer stiller wird. Autokorsi rollen nach dem Abpfiff durch die Stadt.

Hamburg. Fan-tastisch! Das Heiligengeistfeld war gestern ein Meer aus Schwarz-Rot-Gold, mehr als 65.000 Fans bejubelten die vier Volltreffer der Nationalelf und sangen aus vollen Kehlen "So sehen Sieger aus, scha-la-la-la-la." Lange Gesichter dagegen in Hamburgs Pubs, wo viele England-Anhänger das Spiel verfolgten. Rückblende. Schon vor dem Anpfiff geben sich die Anhänger der deutschen Mannschaft zuversichtlich. "Die Engländer machen wir platt", sagt Bastian Dethloff, 33, aus Schnelsen. Sein Tipp: 1:0 für "Schland". Auch in dem völlig überfüllten Pub Finnegan's Wake am Rathaus drücken viele Gäste dem Team von Jogi Löw die Daumen. "Mein Herz schlägt absolut für Deutschland", sagt Kenny O'Connor. Er sei schließlich Ire. Der Irish-Pub ist überfüllt, die Luft stickig. Nur im hinteren Teil des langen Raums sind noch Stehplätze frei. Die Stimmung ist zunächst gut. Noch trinken die englischen Fans mit den deutschen gemeinsam Bier.

Zur selben Zeit in Kemp's English Pub am Mittelweg. 30 Fans sitzen dicht an dicht vor dem Bildschirm, auf den Tischen volle Biergläser. Ehrensache, dass die meisten die englische Nationalhymne laut mitsingen. "Heute müsste es eigentlich ,Good save the team' heißen", sagt Ali Boldrini, 24. Der Engländer trägt stolz das Trikot mit den drei Löwen. Sein Tipp: 3:1 für England. Dann schlägt Wirt Gibson Kemp, 64, die Glocke. Das Spiel beginnt. Überall richten sich jetzt die Augen auf die Bildschirme. 20. Minute, Klose schießt das 1:0. Ohrenbetäubender Jubel auf dem Heiligengeistfeld, die Fans liegen sich in den Armen. Schockstarre in Kemp's Pub. Ali Boldrini schlägt sich die Hände vors Gesicht. Im Finnegan's Wake jubelt ein Deutschland-Fan: "Life is good."

+++ HISTORISCHES 4:1! DEUTSCHLAND DEMÜTIGT ENGLAND +++

Die "Oh, wie ist das schön"-Gesänge sind auch auf dem Heiligengeistfeld noch nicht verstummt, da legt "Prinz Poldi" in der 32. Minute schon nach. 2:0! Die englischen Fans im Finnegan's Wake sind fassungslos, viele schweigen. Nur der Kommentator des britischen Fernsehens findet passende Worte: "Englands world cup team is dying" (Englands WM-Truppe stirbt). Ein Blick in die Gesichter der Fans sagt alles: Verzweiflung pur.

Plötzlich fällt wieder ein Tor - der Anschlusstreffer für England! Schlagartig wird es still auf dem Fanfest. "Noch liegen wir in Führung, das Ding schaukeln wir nach Hause", sagt Markus Schreiber. Der Mitte-Bezirksamtsleiter, der sich eine schwarz-rot-goldene Gumminase aufgesetzt hat, verfolgt das Spiel mit anderen Prominenten - darunter Gastronom Rüdiger Kowalke (Fischereihafen Restaurant), NDR-Urgestein Carlo von Tiedemann und einige Profis des FC St. Pauli - von der "Bild"-Lounge auf der VIP-Tribüne aus.

In Kemp's Pub entlädt sich die Anspannung in einem einzigen Schrei. "Satisfaction!" Ali Boldrini schlägt sich die Fahne um und rennt jubelnd heraus. Eine Minute später sieht es so aus, als habe England den Ausgleich erzielt, doch das Tor wird nicht gegeben. Erleichterung auf dem Heiligengeistfeld. "Der fucking Ball war drin", schreit Ali Boldrini im Kemp's. Alle starren entgeistert auf den Bildschirm "Das ist der Ausgleich für das Tor von Wembley 1966", sagt Maik Coles, 67. "Jetzt sind wir quitt."

Immer wieder läuft die Wiederholung über den Schirm. "Der Ball war eindeutig drin", sagt auch Deutschland-Fan Dieter Farr, 69. Kurz vor der Halbzeitpause steigt der Bierkonsum dramatisch. Beruhigung für gespannte Nerven. Alles dreht sich um das nicht anerkannte Tor. Dann der erlösende Halbzeitpfiff. Engländer und Deutsche verlassen das stickige Finnegan's Wake. Draußen wird heftig diskutiert. "Der Schiedsrichter ist nicht objektiv, der ist für Deutschland", sagt Jurek. Vincent, 11, und Philipp, 12, tröten nebenan laut mit der Vuvuzela. "Deutschland schießt auf jeden Fall noch ein Tor", sagen die beiden Jungen selbstbewusst. "Und dann geht es im Viertelfinale gegen Argentinien." Auch im Kemp's wird gemunkelt: "Das war Betrug", schimpft Wirt Kemp, der den Pub am Mittelweg seit acht Jahren betreibt. Ali raucht eine Zigarette nach der anderen. "Es ist so ungerecht, eine Frechheit", schimpft er.

Anpfiff zur zweiten Halbzeit. Mittlerweile herrscht Ausnahmezustand auf dem Heiligengeistfeld. Spätestens nachdem Thomas Müller mit einem Doppelpack alles klarmacht, hüpfen, tanzen und grölen die Fans. Aus allen Ecken schallt es: "Wir werden Weltmeister!" Fanfest-Veranstalter Uwe Bergmann nimmt einen Schluck Bier: "Ich freue mich, wenn Deutschland weiterkommt. Dann ist die Hütte auch in den kommenden Wochen voll."

Beim 4:1 kann man die Resignation im Kemp's hingegen mit Händen greifen. "Ich begreife das nicht", sagt Gibson Kemp und gibt auf den Frust einen Schnaps aus. "Das nicht anerkannte Tor war der Wendepunkt." Inzwischen ist klar: Die Deutschen haben das Spiel gewonnen. "Aber in der Statistik führen wir. Wir haben 15-mal gegen die Deutschen gewonnen", sagt Ali Boldrini.

Schlusspfiff. Aus! Aus! Das Spiel ist aus! In dem Pub am Mittelweg sitzen die englischen Fans trotz der Niederlage noch ein bisschen zusammen. Maik Coles versucht die Niederlage sportlich zu nehmen. "Nationalstolz hin oder her, die Deutschen haben verdient gewonnen." Tochter Justine, 43, nickt. "Jetzt drücken wir Argentinien die Daumen."

Vor dem Finnegan's Wake versuchen die Fans, eine Erklärung zu finden. "Die haben es doch nicht anders verdient", sagt eine junge Frau. "Schließlich hat besonders Wayne Rooney vor dem Spiel gegen die Deutschen gestänkert." Auf dem Heiligengeistfeld und dem Kiez geht die Party jetzt erst richtig los. Bis in die Nacht hinein feiern die Fans auf der Reeperbahn, während in der ganzen Stadt hupende Autokorsos über die Straßen rollen.