Gegen die Midlife-Crisis gibt es ein Medikament: das Motorrad. Die Harley-Davidson ist die Botox-Spritze der Besserverdiener.

Von jener dunklen Ahnung wurde Hartwig vor sieben Jahren beschlichen. Der Zahntechniker, heute ist er 49, besaß schon damals ein eigenes Labor, er war mit Angela, heute 45, verheiratet und gemeinsam hatten sie zwei Kinder. Die Familie wohnte in einem Stadthaus mit Alsterblick. Davor parkten zwei Autos; im Sommer war man auf Sylt und im Winter in Arosa. Seine Frau und er spielten Golf und Tennis. Sie hatten einen großen Freundeskreis. Sie waren glücklich. Doch plötzlich erschien es ihm, als ob noch etwas anderes auf ihn warten könnte, hinter dem Horizont.

In der Zeitung hatte er von einem Motorrad-Event gelesen, den Harley Days. Dort hatte es ihn hingetrieben und danach war er ein anderer Mann. "Ich hoffte natürlich, dass er sich wieder beruhigt", erinnert sich Angela, doch dann musste sie mit ansehen, wie er die gefürchtete Krise in der Mitte des männlichen Lebens mit dem wahrscheinlich wirksamsten Medikament zu bekämpfen versuchte, das es gibt.

Ein halbes Jahr später bestand Hartwig den Motorradführerschein und rollte noch am gleichen Tag, gewandet in eine brettsteife, knarzende Lederkombi, mit antikledernen Bikerboots sowie einer verspiegelten Sonnenbrille auf der Nase auf einem brandneuen Cruiser vor sein Haus. Als der Motor aufdonnerte, weil Hartwig am Gasgriff drehte, fing sogar der phlegmatische Retriever des Nachbarn aufgeregt zu bellen an. Der schwarze Jethelm auf seinem Kopf erinnerte an einen zu groß geratenen Eierbecher. "Eigentlich sah mein Mann aus wie eine Schießbudenfigur", ulkt Angela.

Am Wochenende werden aus Anzugträgern Rebellen

Seit jenem ersten Auftritt hat Hartwig mit seiner wuchtigen Maschine gerade mal 6450 Kilometer abgerissen. Keine Zeit, Termine, familiäre Verpflichtungen. Dafür hat er mittlerweile knapp 10 000 Euro - zusätzlich zum ursprünglichen Kaufpreis von 20 700 Euro - für modischen und technischen Schnickschnack ausgegeben. "Meine Frau wirft mir vor, dass ich bloß Geld verbrennen würde", gibt er unumwunden zu. "Aber das Basteln, Putzen, Polieren und Schrauben oder auch jede noch so kleine Tour ist für mich immer wie ein Urlaub."

Soweit es das gemeinsame Golf- und Tennisspiel betrifft, hat sich das Ehepaar nach anfänglichen Kämpfen arrangiert. Mindestens zwei Wochenenden pro Monat gehören dem Sport. So lautet die Abmachung."Manchmal glaube ich jedoch, dass Hartwig nur noch mir zuliebe spielt", meint sie. Es klingt resigniert. "In einer Partnerschaft sollte man jedoch gönnen können", fügt sie dann, ganz verständnisvolle Ehefrau, hinzu. Doch als Sozia ist sie noch nie bei ihm mitgefahren.

Hartwig und Angela U. stehen stellvertretend für viele Tausend Paare, die mit dem "Beziehungskiller Motorrad" konfrontiert wurden. Und sie stehen stellvertretend für die relativ wenigen Beziehungen, die an diesem Problem nicht gescheitert sind. Trotzdem möchten sie lieber nicht in die Öffentlichkeit.

Roger Gierz, einer der beiden Geschäftsführer von Harley-Nord, dem größten deutschen Harley-Davidson-Händler, kennt mehrere Paare, bei denen sich die Partnerinnen sogar vom Motorradvirus anstecken ließen, um Streit zu vermeiden. Der 47 Jahre alte Unternehmer, aus dessen halb aufgeknöpftem Hemd ein handtellergroßes Tattoo hervorlugt, ist auf dem Sprung: Vor den Harley Days muss er noch nach Sylt, betuchte Kunden treffen. An der Bar im Verkaufsraum am Nedderfeld dagegen herrscht Gleichbehandlung. Hier genießen der zahnlose Gerüstbauer in Frührente, der kahlköpfige "Höllenengel" mit Vorstrafenregister, der betuchte Finanzvorstand eines Hamburger Bankhauses, der Schauspieler mit Drogenerfahrung und natürlich auch Hartwig sowie ein paar Frauen das gleiche Ansehen. "Immerhin knapp elf Prozent unserer Kunden sind weiblich", sagt Gierz.

Hinterm Regal mit den Harley-Davidson-Babylätzchen und anderem "Kids-Stuff", eingerahmt von original Harley-Davidson-Golfbags, stehen sie dann aufgereiht: die chromblitzenden Sinnbilder meist männlicher Verjüngung. "Wir verkaufen einen Lebensstil", sagt Gierz und grinst dabei, "und das Motorrad gibt es gratis dazu." Diese Firmenphilosophie wurde Anfang der 90er-Jahre entwickelt, als das amerikanische Traditionsunternehmen aus Milwaukee vor dem Aus stand. Das Credo half, das legendäre amerikanische Rocker- und Polizeimotorrad auch in Europa als Kultmarke zu etablieren. Die Modelle wurden fortan im hochpreislichen Premium-Sektor positioniert. So fuhr man der Pleite davon. Dabei gibt es schnellere und zuverlässigere Motorräder. Dafür dürfen Harley-Fahrer stolz sein. Denn im Vergleich zu den modernen technischen Raffinessen aus Japan oder aus Berlin-Spandau (wo BMW-Motorräder vom Band laufen) bewegen sie Antiquitäten durch den Verkehr, die zum großen Teil noch immer auf einer Motorenkonstruktion aus dem Jahre 1936 beruhen. "Es ist die perfekte Steinschlossflinte, die ausgefeilteste Sonnenuhr der Welt", beschreibt der amerikanische Autor Brock Yates den "Mythos Harley" in seinem gleichnamigen Bestseller. "Die Cruiser- und Chopper-Nachbauten aus Fernost bleiben hoffnungslos leere Gesten."

Gegen 15 Uhr an einem Sonntag im Juni trifft Hartwig am Zollenspieker Fährhaus ein, dem Anleger der Elbfähre nach Hoopte. Die kurze Tour hat ihn über die kurvenreichen Elbdeiche geführt. Die Strecke ist vom Zorn der Anwohner gesäumt, die während der Motorradsaison das ganze Wochenende unter dem Lärm der Raser leiden. Deshalb wird hier auch am Wochenende geblitzt. Der Parkplatz am Fähranleger direkt hinterm Deich ist nämlich das bevorzugte Ausflugsziel der Hamburger Motorradzunft. Auch Hartwig kennt so gut wie alle Routen, die von der Innenstadt zu diesem Boulevard der Eitelkeiten führen. Viele andere, reizvolle Motorradstrecken kennt er dagegen noch nicht. Immerhin knarzt seine Lederschutzkleidung nicht mehr.

Etwa 250 BikerInnen haben sich heute hier versammelt, zum Gaffen und Begafftwerden, zum Neidischwerden und Bewunderung-Aushalten: Man schreitet mit federndem Schritt die Reihen der Motorräder ab, bleibt hie und da stehen für einen längeren Blick oder einen kürzeren Plausch. Anerkennung und Missfallen sind häufig nur eine Chromspeiche voneinander entfernt.

Hauptsache auffallen: mit goldenen Helmen aus Frankreich

Mit Hartwigs Laune steht es nicht zum Besten: Seine "Boys", zwei befreundete Ehemänner, die er kurz nach seinem Coming-out mit dem Motorradvirus infiziert hat, haben ihn versetzt. Der Druck kam von ihren Frauen. "Nicht alle Partnerinnen bringen so viel Verständnis auf,", sagt er und stellt seine polierte Road King neben den Maschinen der gleich gesinnten Sonntags-Outlaws ab. Schräg gegenüber auf der Wasserseite würde ihn die Bruderschaft der Graubärte sofort wegbeißen. Denn die Hardcore-Biker achten peinlich genau auf die Einhaltung der verschiedenen Reviergrenzen. So parken, warten und glotzen auch die "Goldhelme" immer für sich im Kollektiv; ein als elitär und als arrogant geltender MotorradKlub, dessen Mitgliederstamm sich aus den besser verdienenden Gesellschaftsschichten rekrutiert. "Wir wollten in der großen Harley-Gemeinde eine eigene Identität besitzen", erklärt der 53 Jahre alte Klubvorstand Dieter Brunswieg und erzählt dann, wie er die golden funkelnden Parade-Helme der französischen Berufsfeuerwehr einst auf einem Flohmarkt in Saint-Tropez entdeckt hatte. Die Geschichte hat er bestimmt schon tausendmal erzählt.

Als Hartwig absteigt, seine Handschuhe abstreift und den Helm an den Lenker hängt, verändert sich seine Körpersprache. Er wirkt bemüht souverän und cool: Er streckt sich wie nach einer 500-Kilometer-Tour und kratzt sich dann betont männlich zwischen seinen Beinen . Noch ein Blick in die Runde, dann stakst er davon in Richtung Imbisswagen, wo er sich einen Kaffee holen möchte. Vielleicht auch noch eine Bratwurst.

Einer aus der Bruderschaft sieht ihm hinterher. Es liegt Verachtung in seinem Blick. Er posiert unübersehbar klassenbewusst vor seiner Electra Glide aus den 70er-Jahren. Die Maschine ist ein echter Hingucker, eine "Early Shovel", die man an den effizienteren "Shovel"-Zylinderköpfen erkennt, die auf den legendären "Panhead-Motor" draufgesetzt wurden. Ein geschickter Schachzug des Herstellers, der auf diese Weise vor der Präsentation des "Late Shovel"-Motors das Lager mit den Panhead-Kurbelgehäusen leer räumen konnte. Solche Feinheiten sind den Sonntag-Outlaws im Allgemeinen fremd. Mike heißt der "Early Shovel"-Fahrer aus Norderstedt. Wie soll er der Arge den Besitz eines Luxus-Motorrads erklären. Und, na klar, auch er sei mal ein "Angel" gewesen und sei trotz Hartz IV noch immer im Milieu tätig. Seine angrauten Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, sein Gesicht ist zerfurcht und sein Gebiss zeigt herbe Lücken. Die fleischigen Oberarme haben in etwa den Umfang von Lukas Podolskis Oberschenkeln und sind vom Handgelenk aufwärts tätowiert.

Tagsüber hängt der 55-Jährige bevorzugt bei Milwaukee-Parts an der Sievekingsallee ab, einem der größeren Ersatzteilhändler in Hamburg, wo die Mitglieder der verschworenen Bruderschaft ein und aus gehen. Die ewigen Schrauber. "Du musst eine Beziehung zu deinem Bock haben", sagt Mike mit unverhohlenem Stolz, "ich nehme mein Moped blind auseinander wie der Soldat sein Gewehr."

An solch authentische Vorbilder wie Mike kommen Freizeitfahrer wie Hartwig niemals ran. Die Outlaws sind unerreichbar. Sie demonstrieren mit jedem ihrer Worte und Gesten, dass ihr Motorrad das Wertvollste und Wichtigste im Leben ist. Es ist heilig. Sie würden eher ihre Frauen verleihen, aber niemals ihre Maschinen. Sie betrachten sich als einzig legitime Nachfahren der Cowboys, denn eine Harley "arbeitet ja schließlich auch mit der arroganten Würde eines Pferdes" (Brook Yates): Zumeist treu und fügsam, kann es ihr urplötzlich einfallen zu bocken oder sich gar komplett zu verweigern.

Dass ihre Maschinen öfter mal Macken haben, betrachten sie als großes Plus: "Wenn du dich irgendwo am Straßenrand mit einer kaputten Kette rumschlägst, hält sofort einer an und hilft", erzählt Mike. Auf diese Weise habe er schon jede Menge Freundschaften geschlossen. Mit dem Kinn deutet er hinüber zum Imbisswagen, der von einer hungrigen und durstigen Menschentraube belagert wird. "Die Gelackten rufen beim ADAC an. Das macht schon mal den Unterschied."

Manche Männer glauben, ein Motorrad wirkt wie eine Dosis Viagra

Kurz bevor Hartwig nach zwei Bechern Kaffee wieder zurück in sein bürgerliches Leben aufbrechen will, gesellen sich zwei bullige Biker zu ihm an den roten Bistrotisch. Sie sehen übel gelaunt aus. Hartwig nickt einen freundlichen Gruß, aber der wird nicht erwidert. Im nächsten Moment greift der eine in die Innentasche seiner abgewetzten Lederjacke, die übersät ist von zermatschten Rapskäfern. Hartwig weicht unwillkürlich einen Schritt zurück. Für ihn hat es den Anschein, als ob der Kerl im nächsten Moment eine Smith & Wesson zückt. Aber es ist nur ein Mobiltelefon mit Vibrationsalarm. "Hallo, Schatz", flötet der Große ins Telefon, "ja, Peter und ich trinken jetzt noch ein Wasser und dann tuckern wir schön langsam zurück ... Kannst schon mal den Grill klarmachen!"

Ist dies nun ein knallharter Harley-Biker oder doch bloß ein Weichei, das sich so wie Hartwig und die vielen anderen Wochenendfahrer ein paarmal im Jahr das Gewand des Schurken überstreift, um dann, nach dem kleinen Ausritt, mit erstarktem Selbstbewusstsein ins traute Heim zurückzukehren?

Nicht wenige Männer, angeblich von Entmännlichung bedroht und mit unterdrückter Libido gestraft, meinen nämlich herausgefunden zu haben, dass gerade ein 350 Kilogramm schweres Motorrad zwischen den Beinen die Wirkung von Viagra habe. Was ihrem angeknacksten Selbstwertgefühl neuen Auftrieb gibt. Bis zur nächsten Panne.