Eine Glosse von Thomas Andre

Wer sich beruflich mit Literatur beschäftigt oder in der Schule unfreiwillig zum Leser wird, der wähnt sich nicht selten im Gefängnis der Buchstaben: ein dröges Kittchen, in dem man Seite für Seite die Gedanken und Erlebnisse anderer liest, während das wirkliche Leben woanders stattfindet. Jedenfalls nicht da, wo uns Bücher fesseln und einsperren.

Aus Brasilien erreicht uns nun aber eine Nachricht, die die semantische Verknüpfung von Gefängnis und Literatur auf eine andere Ebene hebt. In dem südamerikanischen Land, von dem wir bisher wohl zu Recht dachten, dort werde lediglich Fußball gespielt und Karneval gefeiert, werden jetzt Inhaftierte, die ja nun mal nicht weglaufen können, nachdrücklich zum Lesen animiert. Und nicht nur das: Sie sollen nach der Lektüre über das Gelesene reflektieren und einen Aufsatz schreiben. In der Fachsprache nennt man so etwas eine Rezension. Rezensenten sind sehr kluge und gelehrte Zeitgenossen, sie wissen alles besser, und meist haben sie die Bücher sogar wirklich gelesen, über die sie schreiben. In Brasilien wird genau diesnatürlich nachgeprüft werden, und wer als Rezensent ordentlich abschneidet, der bekommt pro gelese nem Buch vier Tage Haftverkürzung.

Das ist doch mal ein Wort! Es sollte allerdings fair zugehen. Man muss nicht gleich "Sein und Zeit" von Heidegger oder "Ulysses" reichen, liebe Gefängniswärter. So oder so gilt aber: Lesen ist ein Akt der Befreiung.