Nach dem Abschuss eines Kampfjets durch Syrien sucht die Türkei Verbündete

Im Juli 1870 redigierte der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck ein Telegramm eines Mitarbeiters, in dem es um das äußerst angespannte Verhältnis zu Frankreich wegen der spanischen Thronfolge ging, in eine sehr provokative Fassung um und sorgte für die Veröffentlichung in den Zeitungen. Diese berüchtigte "Emser Depesche" führte direkt zum Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges.

Dieser Tage gilt es darauf zu achten, dass gezielte diplomatische Überreaktionen keine ähnlich fatalen Folgen haben. Im Grunde ist der Streit um ein abgeschossenes türkisches Kampfflugzeug nur eine Fußnote der syrischen Krise, wenn auch eine tragische. Nicht bekannt ist, welchen Auftrag die Maschine hatte, als sie in syrisches Hoheitsgebiet eindrang.

Der Abschuss durch die syrische Luftabwehr ohne Vorwarnung war fraglos überzogen, doch man darf nicht vergessen, dass die Lage zwischen der Türkei und Syrien stark angespannt ist. Die Türkei bietet den syrischen Rebellen Schutz und organisiert dem Vernehmen nach auch ihre Bewaffnung; syrische Soldaten haben auf türkisches Staatsgebiet gefeuert und dort Menschen getötet. Zudem hat die syrische Luftwaffe - Stütze des Despoten Assad - gerade wieder einen Kampfjet durch einen Deserteur verloren. Syriens Militär an den Grenzen zur Türkei ist daher nervös und in höchster Alarmbereitschaft.

Die Türkei, die Syriens Regime der Aggression bezichtigt, sorgt mit der Anrufung der Nato für eine politische Eskalation. Offenbar will sich Ankara für den Fall einer weiteren Zuspitzung der Krise rechtzeitig der Unterstützung durch die Allianz versichern.

Zunächst geht es dabei nur um Artikel 4 des Nato-Vertrags, der Konsultationen vorsieht. Noch ist ausdrücklich nicht die Rede von Artikel 5, der für den Fall eines Angriffs auf ein Bündnismitglied auch militärische Aktionen ermöglicht. Dass sich die Türkei, die sich in der Krise bislang sehr konstruktiv verhalten hat, angesichts dieses unappetitlichen Nachbarn absichern will, ist verständlich. Doch der Abschuss des Jets eignet sich keineswegs für die Ausrufung des Bündnisfalls. Eine echte Aggression Syriens liegt hier nämlich nicht vor. Hinzu kommt, dass sich der türkische Regierungschef Erdogan innenpolitisch profilieren will, nachdem er mit dem Regime von Baschar al-Assad öffentlich gebrochen und zur Rettung der syrischen Zivilbevölkerung aufgerufen hat. Der Premier kann den Abschuss nicht hinnehmen und spielt die Nato-Karte aus - dürfte allerdings kaum an einer militärischen Eskalation interessiert sein; von Amerikanern, Russen und Chinesen im Uno-Sicherheitsrat ganz abgesehen. Daher wird es zu Artikel 5 gar nicht erst kommen - es sei denn, das Assad-Regime, dem offenbar immer mehr der Realitätssinn abhanden kommt, begeht eine noch größere militärische Eselei. Äußerungen wie jene des britischen Außenministers William Hague, der wegen dieses "ungeheuerlichen" Vorfalls nun nach "robusten Maßnahmen des Sicherheitsrats" ruft, sind jedenfalls unangebracht und haben fast schon den eskalierenden Charakter einer "Emser Depesche".

Man muss sich nur das mittelöstliche Minenfeld vor Augen führen - Syrien ist eng mit dem Iran verbündet, beide halten die Terrorgruppen Hamas und Hisbollah an der Leine, Letztere ist zudem bestimmender Machtfaktor im Libanon. Beide sind Todfeinde Israels, an dessen westlicher Grenze gerade ein Islamist Präsident über die stärkste arabische Macht Ägypten geworden ist und engere Kontakte zu Teheran sucht. Russland ist Verbündeter sowie Waffenlieferant Assads und unterhält in Syrien seinen einzigen Mittelmeerhafen. Die Nato - der schließlich auch Deutschland angehört - müsste mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn sie an diesem Pulverfass eine Lunte anzündete.