Klaus Püschel, Gerichtsmediziner aus Leidenschaft, untersuchte sogar Hitlers Schädel. Er bekam den roten Faden von Christine Behrens.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Folge 47: Professor Klaus Püschel. Er bekam den roten Faden von Christine Behrens.

Immer positiv denken!" Der Spruch auf dem Mobiltelefon von Professor Klaus Püschel klingt schon merkwürdig, wenn man weiß, dass er sich beruflich eher mit den Schattenseiten des Lebens beschäftigt - mit Gewalt, Misshandlung, Alkohol, Drogen, mit unnatürlichen und ungeklärten Todesfällen. Püschel, 60 Jahre alt, ist Lehrstuhlinhaber für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf. Sein Handy-Spruch ist, wie sich bald herausstellen wird, keine zynische Reaktion auf seinen Alltag im Institut am Butenfeld 34, sondern durchaus ernst gemeint.

Rechtsmedizin kennen die meisten Menschen seit "Quincy" Mitte der 90er-Jahre durch Krimis und Fernsehserien wie den diversen "CSI"-Ablegern, "Medical Detective" oder den Münsteraner "Tatort" mit Professor Boerne (gespielt von Jan Josef Liefers). Sie dient da fast ausschließlich als Gruselbeilage, durch das Öffnen mal mehr, mal weniger gut erhaltener Leichen.

Dieses Bild korrigiert Püschel doch gleich mal. An seinem Institut, sagt er, würden mehr Lebende untersucht als Tote, speziell Ermordete. "In Hamburg haben wir pro Jahr etwa 40 Opfer von Tötungsdelikten, wir untersuchen aber jährlich mehr als 1000 ganz unterschiedliche Fälle von Körperverletzung." Er zählt auf: die Untersuchung Verletzter - Unfallopfer, häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt, Kindesmisshandlung, auch vermutete Selbstbeschädigung - zur juristisch verwertbaren Dokumentation von Befunden. Blutabnahmen wegen Alkohol- und Drogenverdachts. Untersuchungen nach Vergiftungen. Er hilft auch zu klären, ob ärztliche Kunstfehler gemacht wurden - "weshalb manche Kollegen noch immer meinen, wir seien die Schlaumeier, die alles besser wüssten - hinterher".

Die meisten Verstorbenen aber sehen seine Mitarbeiter nicht auf dem Seziertisch, sondern bei der Krematoriumsleichenschau, wo sie die Toten zur Verbrennung freigeben - oder nicht, wenn sie meinen, dass Auffälligkeiten doch eine genauere Untersuchung notwendig machen. 10 000 der pro Jahr etwa 17 000 Gestorbenen in Hamburg werden von ihnen begutachtet - "ein enormer Schatz an Erfahrung".

In den gekachelten Sektionsräumen des Instituts werden durchschnittlich fünf Leichen pro Tag geöffnet; sachlich-kühl sieht es hier aus, das Handwerkszeug deutet nicht auf Feinarbeiten: grobe Scheren, kräftige Messer, Sägen, lange, dicke Nähnadeln. Und eine Kelle. "Damit schöpft man das Blut und andere Körperflüssigkeiten aus."

Wenn Klaus Püschel über die Arbeit "im Keller" redet, geht es nicht um Effekte. "Wenn wir eine Leichenöffnung vornehmen, stehen um uns herum Kriminalbeamte, die es genau wissen wollen, dahinter steht der Staatsanwalt mit der Frage einer Anklage, dahinter steht eine unglückliche Familie, die Gewissheit sucht, vielleicht sogar noch eine Versicherungsgesellschaft, weil es um eine Versicherungsleistung geht. Denken Sie nur an den schrecklichen Verkehrsunfall in Eppendorf, was da alles dranhängt ..."

Auch wird nicht immer aufgeschnitten, gewogen, vernäht. "Bei vielen Toten könnte man sich das sparen und sie durch die Röhre schieben - Computertomografie, Magnetresonanztomografie, die auch die Weichteile abbildet, Endoskopie - elektronische Archivierung inklusive." Püschel kommt fast ins Schwärmen, wenn er über solche Möglichkeiten spricht. Leider aber ist das zu teuer, um es in größerem Maßstab einzusetzen. "Der durchsichtige Tote - auch so eine Vision von Püschel", sagt der Professor. Doch im Gesundheitswesen wird gespart. Und deshalb kommt er jetzt unweigerlich, der Satz, der zu Püschels Credo geworden ist: "Tote haben eben keine Lobby." Oben im Erdgeschoss, in seinem geräumigen Büro, sieht es - was das Verhältnis von Chaos und Ordnung angeht - ein bisschen aus wie auf der "Titanic" kurz vor dem Untergang. Er hat alles im Griff, verloren geht hier nichts. Hier wird nur gearbeitet, durchgetaktet und heftig. "Ich lebe hier sozusagen", lacht der Bewohner. Gremien in der medizinischen Fakultät, Gutachten, Konferenzen, Veröffentlichungen, Kongresse, Vorträge, Forschung, engagierte Lehre - Klaus Püschel ist einer, der für seine Arbeit brennt, da sind geregelte Arbeitszeiten eine nette Idee. "Wo waren wir stehen geblieben?"

Ach ja, die große Medienpräsenz seines Fachs. "Das führt natürlich dazu, dass alle denken, die Rechtsmedizin ist bundesweit überall präsent und bestens ausgestattet. Das Gegenteil ist der Fall." Sicher stehe Hamburg nicht ganz schlecht da mit 60 Mitarbeitern. "Doch insgesamt hat die öffentliche Darstellung der Rechtsmedizin eher dazu geführt, dass alle annehmen, dass man da fröhlich kürzen kann. Und selbst bei uns haben wir nicht die Technik, die wir eigentlich brauchen. Überhaupt nicht zu vergleichen mit Möglichkeiten, die man in der Klinik hat, wenn man lebende Menschen untersucht."

Püschel weiß: "Es ist für die Lebenden von ganz enormer Bedeutung, was wir machen. Ein Gutachten, das Klarheit gibt, ist manchmal als Medizin wichtiger als eine ärztliche Behandlung. Weil es einfach auch Frieden schafft oder dazu führt, dass ein Schlussstrich gezogen werden kann." Und dann helfe die Arbeit der Rechtsmediziner häufig den Unterprivilegierten - geschlagenen oder vergewaltigten Frauen, misshandelten Kindern, Drogenabhängigen, Obdachlosen. Was ihn immer wieder richtig aufregt, ist, wenn er an den Körpern alter Menschen die Spuren von Vernachlässigung findet. "Da lege ich den Finger in die offenen Wunden, im Wortsinn. Durchliegestellen - das ist schrecklich!" In solchen Sätzen stecken seine Antworten auf die Frage, warum er sich diesem Beruf mit Hingabe verschrieben hat.

Sportmediziner wollte er werden, als er 1970 in Hannover mit dem Studium anfing. Doch dann kam die Rechtsmedizin in sein Leben - in Gestalt von Professor Brinkmann ("der heißt wirklich so"). Bernd Brinkmann kam aus Hamburg, weil Hannover damals keine eigene Rechtsmedizin hatte. "Er ist der beste und begeisterndste Gerichtsmediziner der Welt. Seine Vorlesungen waren toll, und er ist als Person und Hochschullehrer so überzeugend, so ähnlich wollte ich auch werden." Brinkmann ging übrigens später nach Münster und wurde das Vorbild für den "Tatort"-Professor. Er hat die Fackel angezündet. 1978 kam Püschel nach Hamburg, und 1991 hat er die Institutsleitung übernommen - von Professor Werner Janssen, "Krimi"-Janssen.

Die Jahrzehnte haben seine Begeisterung nicht schwächen können. Was er liebt an seinem Job? "Wenn ich morgens ins Institut fahre, weiß ich nicht, was ich abends erlebt haben werde." Er hat Moorleichen untersucht und ägyptische Mumien, den angeblichen Schädel des Piraten Störtebeker aus dem Hamburgmuseum und an Moskauer Fragmenten des Hitler-Schädels die Schussbahn des Selbstmordprojektils rekonstruiert. Er ist bei der Identifizierung von Katastrophenopfern aktiv und hilft in Nachkriegsgesellschaften wie in Ruanda - "auch da geht es viel um letzte Gewissheiten, die Frieden schaffen können." Und wie hat er seinen Kindern erklärt, was er tagsüber macht und sieht, unten im Keller des Instituts? Und gibt es einen Schalter, den man umlegen kann von Mitgefühl und persönlichem Berührtsein auf medizinisch-professionelle Distanz?

"Es ist manchmal ganz schön belastend. Auch abhängig davon, wer da gerade in den 100 Kühlfächern liegt und obduziert wird. Junge Frauen, junge Drogenopfer, misshandelte Kinder, Unfallopfer." Die Mehrheit der Fälle kann er mental im Institut lassen, wenn er abends zurück nach Schnelsen fährt, wo er wohnt. Nicht immer geht das, manchmal redet er auch mit seiner Frau und den Kindern darüber - "eher abstrakt". Die Kinder haben schon verstanden, dass er Tote untersucht, um Täter finden zu können, zum Beispiel bei Gewalt gegen Kinder.

Auch über spektakuläre Fälle wird gesprochen, über den Säurefassmörder zum Beispiel. Oder über den Mann in Stade, der kurz nach seiner goldenen Hochzeit die Ehefrau ermordete, zerstückelte, die Leichenteile in Plastiktüten über die Feldmark verteilte und anzündete. "Er hatte sich psychisch erheblich verändert. Trotzdem wird man schon nachdenklich, fast philosophisch angesichts einer solchen Tragödie."

Dann wird es auch mal ein Glas Rotwein mehr. Oder der Sport hilft ihm gegen allzu viel Grübeln. Der durchtrainierte Körper verrät den Ausdauerathleten, zehnmal schon ist er in Schweden die Vätternrundan mitgefahren, 300 Kilometer mit dem Rennrad um einen der größten Seen. Triathlon hat er gemacht, ist auch Marathon gelaufen.

Püschel hat eine Balance gefunden: "Wenn man die vielen negativen Dinge im Beruf sieht, dann macht einen das in gewisser Weise ruhig und zufrieden. Ich kann mich einfach nicht mehr ärgern, wenn ich mal was verloren oder eine Schramme am Auto habe. Dann sagt man sich: Das ist doch von völlig untergeordneter Bedeutung."

Man dürfe manches eben nicht zu nah an sich heranlassen, "und ich bin heilfroh, dass ich selber eine intakte Familie habe, mit drei gesunden Kindern und einer netten Ehefrau und fröhlichen Enkelkindern. Gerade jetzt sind beide Töchter schwanger, sie bekommen kurz nacheinander ihr Kind, das ist eine sehr positive Situation."

So besiegt immer wieder das Leben den Tod, auch bei Klaus Püschel. Eine beruhigende Gewissheit.

Klaus Püschel reicht den roten Faden nächste Woche weiter an die ehemalige Hockey-Nationalspielerin und Damenhockey-Nationaltrainerin Greta Blunck, "weil ich ihre Lebensleistung im Sport und ihren unermüdlichen Einsatz für die Jugend und gerade auch für behinderte Kinder bewundere".