Neun Zigarettenlängen dauerte das Gespräch zwischen Altkanzler Helmut Schmidt und dem deutsch-türkischen Filmemacher Fatih Akin.

Der eine führte die Bundesrepublik acht Jahre als Kanzler und ist mit 93 Jahren der Inbegriff hanseatischen Stils. Der andere verhalf dem deutschen Film zu weltweiter Anerkennung und verkörpert das neue Hamburg. Beide teilen eine große Liebe: die zu ihrer Geburtsstadt. Helmut Schmidt und Fatih Akin ergründen das Wesen ihrer Heimat.

Herr Schmidt, Herr Akin, Sie sind beide Hamburger, aber sonst sehr unterschiedliche Menschen. Richtig?

Schmidt: Das muss man wahrscheinlich unterstellen. Etwas genauer werden wir das nach einer Stunde wissen.

Als wir das Gespräch anfragten, hieß es, Sie gäben keine Interviews. Was hat Sie bewogen, doch zuzustimmen?

Schmidt: Nur das Stichwort Hamburg.

Akin: Nur das Stichwort Schmidt. (Beide lachen.)

Unsere Idee: Wir sprechen mit zwei großartigen, aber völlig verschiedenen Hamburgern, um aus den Gemeinsamkeiten ein klareres Bild Ihrer Heimat abzuleiten. Also: Welche Erfahrungen teilen Sie ?

Schmidt: Darauf soll Herr Akin zunächst antworten.

Akin: Ich bin 1973 geboren, Helmut Schmidt wurde 1974 Bundeskanzler. Ich bin sozusagen ein Kind der Regierung Schmidt. Und da meine Kindheit glücklich war, kann ich sagen, dass ein Teil davon auf Helmut Schmidt zurückgeht.

Schmidt: Und der hat von Ihrer Geburt gar nichts gemerkt! In welchem Stadtteil sind Sie aufgewachsen?

Akin : In Altona, meine Eltern wohnten damals am Duschweg.

Schmidt : Aus welcher türkischen Stadt kamen sie?

Akin: Mein Vater aus Zonguldak, meine Mutter aus Istanbul.

Schmidt: Ich muss einen Augenblick nachdenken: Wann war ich das erste Mal in Anatolien? (Pause, Mentholzigarettenrauch steigt auf.). 1954. Ich nahm mir in Istanbul eine Taxe und bin drei Tage durchs Land gefahren. Da gab es nur Schotterpisten. Ab und zu kam uns ein Lkw entgegen, auf dessen Führerhaus "Inshallah" gepinselt war. Ich dachte, die Lastwagen gehörten alle zur selben Firma. Ich hatte den Auftrag eines Hamburger Reeders zu prüfen, ob ein regelmäßiger Güterverkehr zwischen den türkischen Schwarzmeerhäfen Zonguldak, Samsun und einer dritten Stadt sowie Rotterdam oder Antwerpen sinnvoll sei. Ich riet dem Reeder ab, weil mir die Zukunft des Balkans blutig vorkam. Das ist ja auch eingetreten.

Herr Schmidt, haben Sie einen Film von Herrn Akin gesehen?

Schmidt : Nein.

Herr Akin, schon den einzigen Film von Herrn Schmidt gesehen, das Hamburg-Porträt "Ein Mann und seine Stadt" von 1986?

Akin : Nein, aber seine Bücher habe ich gelesen.

Dürfen wir einen weiteren Unterschied annehmen? Dass Herr Akin St.-Pauli-Fan ist, während Herr Schmidt den HSV bevorzugt?

Akin: Für mich ist das richtig.

Schmidt : St. Pauli überließ ich meinem Freund Hans Apel. Aber HSV-Anhänger bin ich keiner.

Kennen Sie denn den Unterschied zwischen einem "gebürtigen" und einem "geborenen" Hamburger?

Akin: Es gibt das Gerücht, dass man sich erst als geborener Hamburger bezeichnen darf, wenn schon die Eltern und Großeltern aus der Stadt kamen. Was das angeht, wäre ich nur ein gebürtiger Hamburger.

Herr Schmidt, Sie sagen über sich, Hamburger von Geburt und Gesinnung zu sein. Was genau ist das, die Hamburger Gesinnung?

Schmidt: Da kann man ein ganzes Buch drüber schreiben. Wenn ich das in einem Satz zusammenfassen soll, dann ist es eine Einstellung zum Leben, die den lieben Gott einen guten Mann sein lässt.

Diese Haltung reklamieren auch die Kölner für sich .

Schmidt : Nein. Die Kölner sind katholisch.

Sind auch Sie Gesinnungshamburger?

Akin: Ich bin zufällig hier geboren, aber ich bin zufrieden mit meinem Schicksal. Ich kann es auch emotionaler ausdrücken: Ich empfinde ein Gefühl der Liebe dieser Stadt gegenüber.

Teilen Sie dieses Gefühl ?

Schmidt: Ja, kann man so sagen.

Herr Akin, Ihr Vater kam 1966 als Gastarbeiter in die Stadt. Ihr Film "Wir haben vergessen zurückzukehren" zeigt, dass Ihre Eltern eigentlich immer zurückwollten. Wie konnten Sie da ein Heimatgefühl entwickeln?

Akin: Diese Stadt hat mich, meine Eltern, meinen Bruder immer mit offenen Armen empfangen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass Hamburg eine Hafenstadt ist. Dass hier immer Menschen angekommen und weggefahren sind, ist da draußen auf den Straßen und Bürgersteigen zu spüren.

Schmidt: Die Weltoffenheit ist, verglichen mit Stuttgart oder Berlin, tatsächlich erstaunlich. Sie war früher noch prägender als heute, aber sie ist immer noch da. Das gilt sogar für die konservativsten Hamburger - das sind die Sozialdemokraten.

Haben Menschen in Meeresnähe einen weiteren Horizont als diejenigen, denen die Berge den Blick verstellen?

Schmidt: Die Natur prägt natürlich. Aber stärker prägen Menschen. Und hier in Hamburg haben Sie es zu tun mit Reedern, Ex- und Importkaufleuten, Schiffsbauern, mit Versicherern, früher auch mit Bankern.

Herr Akin, beteiligen Sie sich an Diskussionen zwischen Hamburgern, Münchnern oder Berlinern, welche Stadt die schönere sei?

Akin: Da habe ich öfter Öl ins Feuer gegossen. Es gab eine Zeit, in der Deutschland für mich nur aus Hamburg bestand. Bis zur Wende war mir etwa der Osten total fremd. Auch danach hatte ich noch diese Klischeevorstellung: Das sind alles Nazis, sicher bin ich nur in Hamburg. Aber mit fortgeschrittenem Alter erreicht man ein gewisses Selbstbewusstsein. Man übernimmt die Weltoffenheit der Stadt, denkt nicht mehr stadtteil- oder stadtpatriotisch, sondern identifiziert sich immer mehr mit dem ganzen Land.

Herr Schmidt, was ist für Sie Heimat?

Schmidt: Ich habe mal gesagt, dass ich alle Städte der Backsteingotik - also auch Wismar oder Rostock - dazuzähle.

Und für Sie, Herr Akin?

Akin: Es gibt zwei Heimaten. Rein pragmatisch ist es der Ort, der meiner Familie sozialen Frieden ermöglicht. Und dann gibt es die Heimat der Kindheitserinnerungen. Das ist die mentale Heimat. Beides ist für mich Hamburg.

Sagen Sie, "Ich bin Deutscher" oder "Ich bin Hamburger"?

Akin: Ich bin Deutscher. Früher habe ich es anders formuliert. Ich sagte: Ich bin ein Hamburger Jung. Aber heute stelle ich mich im Ausland als Deutscher vor. Meistens ist das Thema dann gegessen. Selten sagt jemand: "Aber Sie sehen gar nicht deutsch aus!" Früher kam das häufig vor.

Schmidt: In Europa wird wegen der enormen Möglichkeiten zu reisen der Heimatbegriff langsam, aber sicher an Bedeutung verlieren.

Bedauern Sie den Trend, dass sich Metropolen weltweit ähnlicher werden?

Schmidt: Ich würde ihn bedauern, aber da ich ihn nicht ändern kann, hat das Bedauern keinen Zweck.

Ist Hamburg multikulturell?

Schmidt: Die sogenannte Multikulturalität schwächt sich ab, und es wird eine gemeinsame Kultur daraus entstehen. Der eine ist Türke, der andere Algerier, der Dritte Russe - das wird so nicht bleiben. Die Kulturen werden eingeschmolzen. Dadurch werden auch die Deutschen in 50 Jahren einen ganz anderen Charakter haben als heute oder vor 50 Jahren.

Akin: Sie glauben also, dass Multikulturalität eine Übergangsphase ist?

Schmidt: Ja.

Akin: Mit einem gewissen Starrsinn würde ich widersprechen. Ich bin doch das beste Beispiel für Multikulturalität. Ich empfand Hamburg immer als multikulturell.

Schmidt: Die Multikulturalität vergeht mit dem Wechsel der Generationen. Ihre Enkel werden es eines Tages anders empfinden.

Akin: Es gibt einen Faktor, den Sie nicht erwähnen: Wir sind im Medienzeitalter. Arabische Familien aus Tunesien schauen heute tunesisches Fernsehen in Hamburg. Tunesische Nachrichten sind ihnen näher als das "heute-journal". Genauso ist es bei türkischen Familien. Jeder kann seiner Kultur treu bleiben.

War das in Ihrer Kindheit anders?

Akin: Ja. Mein Vater schickte mich samstags zum Brötchenkaufen. In der Bäckerei gab es eine türkische Zeitung. Und das einmal pro Woche. Heute gibt es in jedem Kiosk täglich jede türkische Zeitung. Tatsächlich waren wir in den 80er-Jahren viel integrierter als die Einwanderer heute. Die Kultur ihrer Herkunftsländer ist jetzt präsenter. Jemand wie mein Vater würde heute in Deutschland wahrscheinlich türkische Nachrichten über das Internet empfangen.

Schmidt: Das ist richtig. Und es bremst den Einschmelzungsprozess außerordentlich.

Herr Schmidt, Sie sagten einmal, es sei ein Fehler gewesen, dass die Bundesrepublik zu Beginn der 60er-Jahre Gastarbeiter einwandern ließ. Wie sehen Sie es heute?

Schmidt : Ziemlich ähnlich.

Empfinden Sie es nicht als Bereicherung, unterschiedliche Kulturen kennenlernen zu können?

Schmidt: Ich empfinde es nicht als Bereicherung, obwohl es eine Bereicherung sein kann. Ich empfinde es als eine Erschwernis. Hamburg ist eine kleine Stadt, maximal zwei Millionen Einwohner. Hamburg wird nicht genug Platz haben für Chinatowns und türkische Städte.

Das komplette Interview steht im aktuellen "ADAC reisemagazin Hamburg", 164 S., 8,10 Euro