Wenn alle Menschen so viel verbrauchen würden, bräuchten wir drei Planeten zum Leben. Der Rio-Umweltgipfel und seine Konsequenzen

Mehr als 20 000 Politiker und Experten kommen diese Woche (20.-22. Juni) in Rio de Janeiro zu einem besonderen Jubiläum zusammen - Anlass, über den Tellerrand unserer Alltagsroutine und Selbstgewissheit hinauszuschauen.

Vor 20 Jahren schuf der legendäre "Erdgipfel" für Umwelt und Entwicklung in Rio die "Agenda für das 21. Jahrhundert", machte die Vision "Nachhaltigkeit" populär. Es ging um globale Gerechtigkeit beim Zugang zu den endlichen Ressourcen und um ihre Verfügbarkeit für zukünftige Generationen. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf die Schätze dieser Welt. Die Industrieländer müssen ihren Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoß um bis zu 90 Prozent senken, um den Schwellen- und Entwicklungsländern Wirtschaftswachstum gegen Hunger und Armut zu ermöglichen.

Auch wir in Hamburg leben "über unsere Verhältnisse": Übernähme jeder Mensch auf der Welt die Lebensweise eines Hamburger Durchschnittsbürgers, bräuchte die Erdbevölkerung - nach der Methode des ökologischen Fußabdrucks - fast drei Planeten, um den Bedarf an Ressourcen und Abfallsenken zu decken. Wie gehen wir mit dieser Einsicht um? Wie ernst ist uns globale Gerechtigkeit? Einige wenige richten ihren Lebensstil - freiwillig und so gut es geht - nach dieser Erkenntnis aus: Fahrrad statt Auto; Urlaub in Mecklenburg statt auf den Malediven; vegetarische Kost, möglichst bio, saisonal und regional oder fair gehandelt; Neukauf nur als Ersatz für nicht mehr zu Reparierendes; möglichst Teilzeitarbeit zugunsten von Familie oder Ehrenamt usw. Andere Mitmenschen haben da weniger Skrupel und leisten sich - auch auf Pump - ressourcenfressende Geländewagen, möglichst exotische Fernreisen und in allem die jeweils neueste Mode, nach der Devise "nach mir die Sintflut". Und drittens gibt es Menschen, die sich nicht als Weltretter verstehen, aber sagen: "Ich bin bereit, nachhaltiger zu leben, wenn Gesetze auch meine Mitmenschen dazu verpflichten."

Für globale Gerechtigkeit ist neben dem Einzelnen vor allem die Politik verantwortlich. Gerade veröffentlichte Kanzlerin Merkel den Fortschrittsbericht 2012 der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie von 2002. Deutschland ist in den letzten Jahren vorangekommen in Richtung Ressourceneffizienz und Abkoppelung des Wachstums vom Energie- und Rohstoffverbrauch. Aber sicher nicht weit genug.

Und Hamburg? Es ist das einzige Bundesland, dessen Ressourceneffizienz in den letzten Jahren deutlich gesunken ist. Nachhaltigkeitspolitik? Aus der lokalen Agenda 21, zu der sich Hamburg 1996 in der Aalborg-Charta verpflichtet hat, ist nichts geworden. Die Nachhaltigkeitskonferenzen (2002-2007) im Rathaus sind ausgelaufen. Immerhin haben sich die "Zukunftswochen" gehalten. Und in der Uno-Dekade (2005-2014) "Bildung für nachhaltige Entwicklung" hat Hamburg Zeichen gesetzt. Aber kaum hatten die Umwelt- und Nachhaltigkeitsorganisationen den schwarz-grünen Senat zum Startschuss für eine systematische Strategie bewegen können, da zerbrach die Koalition. Das Umwelthauptstadtjahr 2011 wurde eher abgewickelt als für neue Impulse genutzt; Versprechungen, die den Titel rechtfertigten, bleiben unerfüllt. Haushaltsmittel für Umweltmaßnahmen und Klimaschutz werden gekürzt. Und das kürzlich vorgestellte Umweltprogramm nimmt sich - im Gegensatz zum Hafenentwicklungsplan - doch sehr bescheiden aus. Die Musik der SPD spielt woanders: im Wohnungsbau, in der Hafenwirtschaft.

Nach der Agenda 21 ist Nachhaltigkeit die Balance zwischen wirtschaftlicher Stabilität, ökologischer Tragfähigkeit und sozialem Ausgleich. Wer wenn nicht (auch) die Handelsmetropole Hamburg sollte eine Gesamtsicht, eine integrierte Politik wagen und den eigenen Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung systematisch reflektieren und stärken? Es dürfte dem Senat entgegenkommen, dass bei Rio+20 die "green economy" ein Hauptthema ist. Aber Senat und Bürgerschaft der Ex-Umwelthauptstadt Europas, der "Fair Trade Stadt" Hamburg und Partnerstadt von Leon, Shanghai und Daressalam, werden in Rio nicht vertreten sein. Routine und Selbstgewissheit werden nicht erschüttert.