Weil sie durch das Schicksal von Julia Timoschenko an ihr eigenes Leben in einem Unrechtsstaat erinnert wird, greift Angela Merkel ein

Irgendwie ist Viktor Fedorowitsch Janukowitsch ein schlichtes Gemüt. Im Januar 2011, als der Präsident der Ukraine am Weltwirtschaftsgipfel im schweizerischen Davos teilnehmen durfte, rief er die westliche Welt dazu auf, in seinem Land zu investieren. Am besten sei es, wenn sie demnächst persönlich vorbeikämen, im Frühling, "um mit eigenen Augen zu sehen, wie die Kastanienbäume blühen und die Frauen beginnen, sich leicht zu kleiden". Das reiche, um sich in die Ukraine zu verlieben! Dazu lachte Herr Janukowitsch sein vermeintlich joviales, tatsächlich aber immer etwas wölfisch wirkendes Lachen.

Inzwischen ist Janukowitsch in den westlich von Kiew gelegenen Staaten nicht mehr willkommen. Grund: Im August 2011 wurde die bekannteste schöne Frau der Ukraine verhaftet und schon zwei Monate später wegen angeblicher Veruntreuung von Staatsgeldern zu sieben Jahren Haft verurteilt. Zufällig handelte es sich um Julia Timoschenko, Janukowitschs Gegenkandidatin 2010 und schärfste politische Widersacherin. Julia Timoschenko ist krank. Schon während des Prozesses ging es ihr aufgrund eines akuten Bandscheibenvorfalls sehr schlecht. Vom Janukowitsch-Regime wurde sie dafür als Simulantin diffamiert, aber im Februar geschah dann doch ein kleines Wunder: Einem deutsch-kanadischen Ärzteteam wurde Zugang zum Gefängnis in Charkow gewährt, in das man die 51-Jährige geschickt hatte. Diagnose des Charité-Chefs Karl Max Einhäupl: Julia Timoschenko hat einen angebrochenen Rückenwirbel aufgrund eines nicht behandelten Bandscheibenvorfalls.

Von der deutschen Bundeskanzlerin heißt es ja zuweilen, sie habe einen Hang zum Abwarten und exponiere sich nicht gern, aber in diesem Fall erweist sich Angela Merkel als hartnäckig. Als Einhäupl am Freitag das Krankenhaus in Charkow besichtigte, in dem Julia Timoschenko gegen ihren Willen behandelt werden soll, wurde er nicht nur vom Chefarzt seiner Orthopädie begleitet, sondern auch von einem Vertreter des Berliner Kanzleramts. Zuvor hatte die Bundesregierung der Ukraine bereits angeboten (um nicht zu sagen: nahegelegt), Julia Timoschenko zur Behandlung nach Deutschland ausfliegen zu lassen. Janukowitschs Stellvertreter Valeri Choroschkowski hatte das am Mittwoch dieser Woche mit dem Argument abgelehnt, die Gesetzeslage lasse das nicht zu. Am Donnerstag erfolgte dann ein diplomatischer Paukenschlag: Bundespräsident Gauck erklärte, er werde im Mai nicht zum Präsidententreffen nach Jalta reisen, und der Regierungssprecher teilte mit, diese Entscheidung sei "in engem Benehmen" mit der Bundeskanzlerin getroffen worden. Angela Merkel sei "besorgt" über den Gesundheitszustand Timoschenkos, den die deutschen Ärzte als "bedrohlich" bezeichnen.

Man weiß nicht viel über das persönliche Verhältnis zwischen der Ukrainerin, die sich ihren Zopf so gerne zum mädchenhaften Russenkranz bindet, und der Deutschen, die eher sachlich daherkommt. Zwangsläufig sind sich die beiden Frauen ein paar Mal in Timoschenkos Amtszeiten begegnet, also zwischen Januar und September 2005 und zwischen Dezember 2007 und März 2010. Es gibt herzliche Bilder vom Kiew-Besuch Merkels im Sommer 2008, von politischen Gipfeln und Konferenzen. Von darüber hinausgehenden Verbindungen weiß man nichts. Vermutlich braucht es die auch nicht. Vermutlich ist Angela Merkel nur der Hut hochgegangen. Beim Blick auf eine bleierne Gestalt wie Viktor Janukowitsch, der von "Moderne" faselt, aber immer noch glaubt, die Zeit anhalten zu können. Bei der Erinnerung an den Unrechtsstaat, in dem sie selbst die längste Zeit ihres Lebens verbringen musste.

Die Bundeskanzlerin kann die Daumenschrauben durchaus noch enger anziehen. Am 8. Juni beginnt die von Polen und der Ukraine gemeinsam ausgetragene Fußball-Europameisterschaft. Davon hängt für das Janukowitsch-Regime viel ab, denn dreieinhalb Monate später stehen in der Ukraine Parlamentswahlen an. Leere Plätze auf den Ehrentribünen machen sich vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht besonders gut.