Politiker in der Hauptstadt verlieren schnell den Bezug zum Rest der Republik

Der beste Satz der vergangenen Woche stammt von Sigmar Gabriel: "Wir sind heute in Elmshorn", sagte der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei seinem gemeinsamen Auftritt mit Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und dem ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück, "weil wir nicht glauben, dass das Leben in dieser Republik überall so ist wie in einem Bierdeckelradius rund um den Reichstag." Mag sein, dass das nicht der einzige Grund dafür war, dass die SPD-Troika ausgerechnet in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt ihr Comeback gefeiert hat. Mag sein, dass Gabriel sowieso gerade in der Nähe war und seine beiden Spitzengenossen zufällig Zeit hatten.

Trotzdem hat der SPD-Chef mit seiner Bemerkung einen wichtigen Punkt gemacht: Politik und Politiker sind in Deutschland nämlich deutlich zu hauptstadtzentriert. Der Blick von Berlin auf die Republik verschiebt oft die Realitäten, von den Menschen und Umständen im Bierdeckelradius rund um den Reichstag wird fahrlässig auf die Gesamtbefindlichkeit der Nation geschlossen. Das ist problematisch, weil das politische Berlin, und Berlin als Stadt, ebenso wenig repräsentativ für Deutschland sind wie beispielsweise New York jemals ein Abbild der Vereinigten Staaten von Amerika sein könnte.

Dass das Leben in einer Weltmetropole wie Berlin Menschen verändert, die aus dem Schwarzwald oder einem kleinen Dorf an der Ostsee dorthin ziehen, ist verständlich - sonst würden sie sich wahrscheinlich auch gar nicht wohlfühlen in der großen Stadt.

Dass das auch für Bundestagsabgeordnete gilt, die zudem noch in den Sog der großen Politik und ihrer vielen Zirkel geraten, ist allerdings gefährlich. Gabriels Parteigenosse Jens Böhrnsen, Bremer Bürgermeister und nach der Demission Horst Köhlers für kurze Zeit Ersatz-Bundespräsident, hat einmal gesagt, wie er sich über die Wandlung von Lokalpolitikern wundern würde, die es in den Bundestag geschafft hätten: "Eben haben sie noch ausschließlich davon geredet, wie wichtig die Belange der eigenen Stadt und der eigenen Region sind und wie sehr sie sich dafür einsetzen würden", so Böhrnsen. "Kaum sind sie ein paar Monate in Berlin, ist davon nichts mehr übrig." Im Gegenteil: Plötzlich werde alles nur noch aus Sicht der Hauptstadt beurteilt und gesehen. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die berufliche Aufstiege erleben, vergessen, wo sie herkommen. Bei Politikern kann das allerdings dazu führen, dass sie eine Politik machen, die vor allem jenen gefällt, denen sie permanent im zitierten Bierdeckelradius begegnen. Noch schlimmer: Da sie von ihresgleichen in ihrer Meinung bestätigt werden, glauben sie auch noch, dass sie alles richtig machen.

Insofern kann man Sigmar Gabriel in seinem Punkt, der natürlich auch strategisch gut in die überall anzutreffende Rückbesinnung auf "Heimat" passt, nur unterstützen: Wer Politik für ein Land macht, muss sie im Land machen, muss die Menschen in Berlin kennen, aber eben auch in Elmshorn oder Tornesch. "All business is local", sagen Unternehmer dazu, und genau das sollte auch für Politiker gelten.

Politik ist in all ihren Entscheidungen ein extrem lokales Geschäft, und Politiker sollten sich deshalb immer und zuallererst als Lokalpolitiker verstehen - ob sie nun Bundespräsident, Bundeskanzler oder Bundesminister sind. Das erdet zum einen und verhindert zum anderen, dass die Distanz zum Wähler weiterwächst.

Wenn der heute oft und gern von seiner Politikverdrossenheit spricht und nicht nur "von denen da oben", sondern eben von "denen da in Berlin", ist das auch ein Ergebnis der Bierdeckelradius-Republik. Die lässt sich nur aufbrechen, wenn Politiker aller Parteien Berlin als das begreifen, was es ist: die Hauptstadt des Landes.

Aber nicht die Hauptsache.