Hamburger Abendblatt:

Wie gut beschützt Hamburg seine Kinder?

Professor Gerhard Suess:

Vor dem Tod von Chantal hätte ich gesagt: Es ist alles auf einem guten Weg. Nach Chantals Tod frage ich mich: Warum immer wieder Hamburg?

Warum immer wieder Hamburg?

Suess:

Die Kosten für Jugend- und Familienhilfe sind gestiegen, aber viele fragen sich zu Recht: Was wird da eigentlich gemacht? Es kann tödlich sein, immer nur zu fordern, wir brauchen mehr Stellen und mehr Geld, ohne die bestehende Praxis auf den Prüfstand zu stellen.

Die Fallzahlen haben sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, die Belastung der Mitarbeiter ist gestiegen.

Suess:

Richtig, aber gleichzeitig ist der bürokratische Aufwand gewachsen. Akten studieren, Berichte anfertigen, Teilnahme an Sitzungen - alles ist mittlerweile wichtiger als der unmittelbare Kontakt mit den Menschen vor Ort.

Was muss sich ändern?

Suess:

Wir brauchen eine Jugendhilfe mit mehr Wirkungsorientierung. Man darf sich nicht nur auf das berufen, was man schon immer so gemacht hat. Jugendhilfe braucht offene inhaltliche Diskussionen und ein modernes Fehlermanagement.

Sie waren mehr als zehn Jahre im Bezirk Nord in der Erziehungsberatung tätig.

Suess:

Wir haben uns viel mit Strukturveränderungen befassen müssen, Inhalte kamen zu kurz. Aus meinen jetzigen Kontakten mit dem bezirklichen Jugendamt bei schwierigen Einzelfällen erfahre ich eine Strategie des Abschottens. Das ist nicht zeitgemäß.

Was fordern Sie?

Suess:

Die Verantwortlichen müssten die Kritiker einladen: Kommt her, uns interessieren eure Meinungen! Es hat mich überrascht, dass Senator Scheele eine solche Offenheit zeigte und mich sofort eingeladen hat, nicht aber die Verantwortlichen vor Ort, als ich Kritik vorbrachte. Gerade in den Bezirken könnte man anhand schwieriger Einzelfälle konkrete Verbesserungen im Kinderschutz erreichen. Nur so kann man Fehler erkennen und daraus lernen. Stattdessen werden die Kritiker rausgedrängt. Am meisten stört mich, wenn jemand behauptet, er mache keine Fehler.

Sie haben aus den USA das Frühinterventionsprogramm STEEP in Hamburg eingeführt. Wie wichtig ist frühe Hilfe?

Suess:

Wir wissen aus den USA, dass jeder Dollar, der in dem Bereich von null bis drei Jahren investiert wird, das Vierfache an Kosten einspart. Eine sichere Eltern-Kind-Bindung ist der beste Schutzfaktor für das Leben des Kindes.