Neustadt. Er ist ein treuer Kunde, und darauf ist er stolz. Seit mehr als vier Jahrzehnten kauft Heinrich F. immer wieder in demselben Kaufhaus in der Hamburger Innenstadt ein. "Und mit dem früheren Geschäftsführer habe ich sogar zweimal Kaffee getrunken", brüstet sich der 74-Jährige. Doch mittlerweile dürfte das Verhältnis ein wenig zerrüttet und auf beiden Seiten die Neigung zu einem Plausch bei einem Heißgetränk deutlich abgekühlt sein. Denn der Rentner wird verdächtigt, in der Schreibwarenabteilung des Ladens in der Adventszeit des vergangenen Jahres eine Weihnachtskarte gestohlen zu haben. Weil er dabei laut Anklage zwei Teppichmesser bei sich trug, wirft die Staatsanwaltschaft dem Mann jetzt im Prozess vor dem Amtsgericht Diebstahl mit Waffen vor.

"Ich begehe doch nicht einen Diebstahl für so einen Betrag", entrüstet sich der Angeklagte jetzt. Und tatsächlich mutet schon fast hanebüchen an, für einen vergleichsweise lächerlichen Wert von 2,50 Euro, die die Weihnachtskarte kostete, das Risiko einzugehen, erwischt zu werden und unfreiwilliger Hauptakteur auf strafrechtlicher Bühne zu werden. Zumal Heinrich F. mit deutlich mehr als 2000 Euro eine Rente bezieht, für die ihn so mancher Altersgenosse beneiden dürfte.

Wie um seinen angenehmen sozialen Status zu untermauern, hat sich der Hamburger denn auch standesgemäß gekleidet mit blütenweißem Hemd, Anzug und dunkler Krawatte bei seinem Auftritt vor Gericht. Sein anthrazitfarbener Mantel jedoch dient für ihn nicht nur als kleidsamer Schutz gegen Wind und Wetter, sondern auch als im wahrsten Sinne des Wortes handfestes Beweismittel. Er habe denselben Mantel bei sich, den er auch am angeblichen Tattag trug, versucht der Mann seine Argumentation zu stärken. "Ich zeige Ihnen die Tasche, die ist zu klein für eine quadratische Karte", verteidigt er sich. Die Karte, die er gestohlen haben soll, sei tatsächlich eine, die er selber schon in den Laden mitgebracht habe, "zu Vergleichszwecken, weil ich eine ähnliche kaufen wollte", behauptet der Rentner mit energisch erhobener Stimme.

Doch den Amtsrichter überzeugt das nicht wirklich. Ein Video aus einer Überwachungskamera des Kaufhauses, das im Gerichtssaal vorgeführt wird, lege eher nahe, dass die Anklage korrekt ist, meint der Richter. Bei einem Schokoriegel im Wert von 99 Cent, den Heinrich F. ebenfalls gestohlen haben soll, gibt es jedoch kein Überwachungsvideo. Deshalb wurde dieser Fall nicht angeklagt. Doch der 74-Jährige geht gleichwohl auch gegen diesen Verdacht mit Verve vor. Etliche Bons für den Erwerb eben solcher Riegel kramt er aus seiner Aktentasche hervor, allesamt jedoch datiert nach dem angeblichen Diebstahl. "Von vorher habe ich keine Belege mehr", räumt der Angeklagte, nun schon etwas kleinlauter, ein. Er habe jedenfalls seine Konsequenzen aus den Vorwürfen gezogen, grollt er: "Jetzt versehe ich alles, was ich bei mir trage, mit roten Punkten, um zu beweisen, dass es wirklich mir gehört."

Bei den beiden Teppichmessern, die er seinerzeit ebenfalls bei sich hatte, gibt es indes keinerlei Zwist um die Eigentumsverhältnisse. Er führe ständig eins mit, argumentiert der Rentner, "weil man ja heutzutage nicht einmal mehr anderthalb Liter Wasser kaufen kann, ohne eine Verpackung aufschneiden zu müssen". Das zweite Messer habe er eingesteckt, weil ihm entfallen sei, dass er bereits eins in der Hosentasche trug. Aus Sicht des Ladendetektivs, der damals auch den Diebstahl beobachtete und jetzt als Zeuge im Prozess bestätigt, war das Teppichmesser jedoch nicht nur eine "Aufreißhilfe", wie Heinrich F. insistiert, sondern auch eine Bedrohung. "Der Herr war sehr aggressiv", erinnert sich der Detektiv. "Er wollte das Messer nicht auf den Tisch legen. Wir mussten es ihm aus der Hand reißen." Das zweite Messer wurde von der herbeigerufenen Polizei beschlagnahmt.

Aus Sicht der Staatsanwältin ist der Vorwurf eines Diebstahls mit Waffen, der laut Gesetz auch ein "anderes gefährliches Werkzeug" beinhaltet, erfüllt. 7000 Euro Geldstrafe fordert sie für die Tat, die sie als "minderschweren Fall" einschätzt. Der Amtsrichter bleibt mit seinem Urteil von 90 Tagessätzen zu 50 Euro, die für diesen Vorwurf denkbar mildeste Strafe, noch unter dem Antrag.

Es sei dahingestellt, "ob Sie seit Jahrzehnten in dem Kaufhaus Kunde sind", erläutert er dem sichtlich empörten Angeklagten das Urteil von 4500 Euro Geldstrafe. "An diesem Tag ist es über Sie gekommen. Sie haben gestohlen, und zwar eine Weihnachtskarte, die Sie spielend hätten zahlen können."

Ein Diebstahl mit Waffen liege schon dann vor, wenn mit einem gefährlichen Gegenstand Verletzungen erzielt werden könnten, erläutert er die Gesetzlage. "Und ein Teppichmesser wäre dazu trefflich geeignet." Es müsse nicht eingesetzt oder damit gedroht werden, um den Tatbestand zu erfüllen. Es gebe Verurteilungen, sagt der Richter, weil man bei Verdächtigen nach einem Diebstahl später auf der Polizeiwache "eine kleine Nagelschere" gefunden habe. Schon die abstrakte Gefährlichkeit werde bestraft. "4500 Euro für eine Weihnachtskarte", überlegt der Richter. "Das dürfte mit Abstand die teuerste sein, die jemals in Hamburg und Umgebung gekauft beziehungsweise eben nicht gekauft wurde."